Das gelähmte Land

Kolumbien: Zwischen Wachstum und Kollaps

27.04.14 03:00 Uhr

Einst im Drogenkrieg versunken, mausert sich der Staat nun zum südamerikanischen Wirtschaftswunder. Doch die maroden Verkehrsnetze drohen den Traum vom Wohlstand für alle platzen zu lassen.

von Alexander Sturm, Bogotá

Es ist unerträglich. Alle haben sie schon: Die Bewohner von Lima in Peru, von Quito in Ecuador, von São Paulo in Brasilien, von Buenos Aires in Argentinien und auch die von Caracas in Venezuela. Nur in Bogotá, der Hauptstadt Kolumbiens, gibt es sie noch immer nicht. Die Menschen sehnen sie herbei - und glauben nicht mehr daran. Zu lange hat man sie versprochen und nichts ist geschehen. "Jetzt sind wir so nah dran wie noch nie", sagt Rafael Pardo, Bürgermeister von Bogotá. "Es wäre ein Meilenstein für Kolumbien."

Nun könnte der Traum endlich wahr werden: die erste U-Bahn für die Hauptstadt. Auf 27 Kilometern soll sie den reichen Norden mit dem armen Süden verbinden. Um das jahrzehntealte Projekt zu verwirklichen, treffen sich an diesem Tag Banker, Beamte, Politiker und Professoren in der Handelskammer von Bogotá. Sie diskutieren über eines der prestigeträchtigsten Bauvorhaben der Nation: Mit der U-Bahn soll die Hauptstadt bis 2021 zu den übrigen Metropolen Südamerikas aufschließen. Doch bis dahin müssen die Menschen warten. Es geht um nicht weniger als 7,6 Millionen. Und um eine Stadt, die vor lauter Autos zum Stillstand verdammt ist.

Business statt Kokain
Die marode Infrastruktur in Kolumbiens boomender Hauptstadt steht sinnbildlich für die Lage im ganzen Land. Zwar holt der Andenstaat im äußersten Nordwesten Südamerikas seit Jahren auf. Mit Wachstumsraten zwischen vier und sieben Prozent ließ Kolumbiens Wirtschaft in den vergangenen Jahren den Rest des Kontinents hinter sich. Selbst in der Finanzkrise rutschte sie nicht in die Rezession. Endlich scheint Kolumbien den Sprung aus der dunklen Vergangenheit zu schaffen: vom Land, das im Krieg zwischen Drogenbossen, linken Rebellen, rechten Paramilitärs und der staatlichen Armee versank, zu einem Staat, der sich nun zu einem der verheißungsvollsten Schwellenländer Südamerikas aufschwingt. Selbst in Medellín, der zweitgrößten Stadt des Landes und während der 90er-Jahre die Hochburg der Kokain-Mafia, blühen wieder die (legalen) Geschäfte.

Doch zugleich fehlt es überall an Investitionen in Straßen, Häfen, Brücken und Bahnen. Von Kolumbiens einst gut ausgebautem Zugnetz ist nur noch ein Viertel der Strecken befahrbar. Der Magdalena-Fluss, früher eine wichtige Schifffahrtsstraße zum Kohletransport zwischen den Anden und der Karibikküste, versinkt in der Bedeutungslosigkeit. Und auf vielen Überlandstraßen werden nur Durchschnittsgeschwindigkeiten von kaum über 30 Stundenkilometern erreicht. Der Krieg ließ vielerorts keinen Ausbau zu.

Der Rückstand lähmt Handel, Transporte und Produktion - und droht Kolumbiens Wirtschaftswunder auszubremsen. Zumal ein modernes Verkehrsnetz dringender denn je gebraucht wird: Kaum ein südamerikanisches Land wächst schneller als Kolumbien, dessen Bevölkerung seit 1995 um über zehn Millionen Einwohner zunahm.

Sechsspurige Straßen - und Stau
Die Folgen zeigen sich in der Hauptstadt deutlich. Beißend legt sich der Gestank der Abgase von Abertausenden Autos über die verstopften Straßen. Dicht gedrängt quält sich der Verkehr nur im Schritttempo voran. Eine Fahrt von den Außenbezirken ins Zentrum in weniger als zwei Stunden? Utopisch!

Dabei tut die Stadt schon alles, um der Massen Herr zu werden. Morgens werden die Verkehrsadern in Einbahnstraßen umgewandelt - so entstehen sechsspurige Trassen in die Innenstadt. Abends geht es nach dem gleichen Prinzip hinaus. Zu den Stoßzeiten dürfen zudem abwechselnd nur Autos mit geraden oder ungeraden Nummernschildern ins Zentrum fahren. Auch das Bussystem Transmilenio sorgt für etwas Entlastung.

Zur Jahrtausendwende, als Bogotás Stadtplaner die Kosten für eine U-Bahn scheuten, ersannen sie ein Nahverkehrsnetz, das ihrem Konzept ähnelt: Auf eigenen Spuren fahren Großraumbusse durch die Stadt, fast ungestört vom Verkehr. Über Fußgängerbrücken, welche die Autoströme wie eiserne Spinnenbeine überspannen, gelangen Bogotás Pendler an die Bussteige. Doch das reicht längst nicht mehr. An der U-Bahn führt kein Weg vorbei.

Einer, der sie mitfinanzieren soll, heißt Miguel Lombana, Partner bei der lokalen Investmentbank SILK. Aus ihrem Konferenzraum hoch oben über der Stadt öffnet sich der Blick auf die Bergketten der Anden, die bis an die Häusergrenze heranreichen. Aus dem morgendlichen Verkehrschaos zu Füßen des Bankenturms dringen Hupen und Polizeisirenen hinauf. "Kolumbien wird immer reicher", sagt Lombana, "aber die Infrastruktur hinkt dem Rest Südamerikas um Jahre hinterher. Wollen wir wirtschaftlich eine wichtige Rollen spielen, müssen wir aufholen." Er spricht von größeren Häfen an der Pazifik- und Karibikküste, neuen Autobahnen zwischen den Großstädten und Straßen, die ­eines Tages die fast unbesiedelten Hochebenen des Ostens und die Amazonas-Urwälder im Süden erschließen könnten. Doch dass dafür viel Zeit vergehen wird, weiß auch er. "Milliardenbeträge sind in Kolumbien schwer zu beschaffen. Die Investoren haben schlechte Erfahrungen gemacht."

Selbst kolumbianische Pensionsfonds schreckten davor zurück, Anleihen zur Finanzierung von Bauprojekten zu kaufen. Planungsfehler, politische Umstürze und Missmanagement hätten viel Vertrauen gekostet, gerade bei den zahlreichen Versuchen für die U-Bahn. "Wir brauchen ausländische Geldgeber, um die Zweifel der Kolumbianer zu zerstreuen."

Auch während einer Verkehrskonferenz liegt die Hoffnung auf internationalen Firmen. Die U-Bahn erscheint wie ein ferner Heilsbringer. Dabei steuert der Staat allein 70 Prozent der Kosten von drei Milliarden Dollar bei. Dennoch referieren Banken die Finanzierung der Vorbilder in Lima oder São Paulo bis ins Detail. Auch ausländische Geldhäuser wie die kanadische Scotiabank und die spanische BBVA stellen sich vor. Im Herbst sollen die Budgets stehen.

Die U-Bahn als sozialer Ausgleich
Im zehnten Stock eines schmucklosen Betonturms sind die Pläne schon weit gediehen. William Camargo, Direktor des Instituts für Stadtentwicklung, steht neben einer Kolumbien-Flagge am Kopf des Sitzungssaals und spult die Details ab: 27 Stationen, 80 000 Fahrgäste pro Stunde bis 2050, sieben Umsteigestationen zum Transmilenio. Und das sei nicht alles: 154 Kilometer neue Radwege, mehr Busse, breitere Gehsteige, größere Verkehrsachsen, dazu Straßenbahnen an den steilen Berghängen der Elendsviertel. "Es geht nicht nur um Transport, sondern auch um sozialen Ausgleich."

Auch die Landesregierung will die Infrastrukturprobleme anpacken. Bis 2020 sollen bis zu neun Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung in Straßen, Häfen, Bahnen und Airports fließen, mehr als doppelt so viel wie bisher. Die Nationale Agentur für Infrastruktur hat angekündigt, binnen sechs Jahren 8000 Kilometer neue Autobahnen zu bauen. Sie spricht von einer neuen Ära - und von "Autobahnen für den Wohlstand". Doch laut einer Studie der Vereinten Nationen ist dieser Kraftakt gerade genug, um die Versäumnisse der Vergangenheit aufzuholen: Ohne moderne Verkehrsnetze sei es unmöglich, dauerhaft Wachstumsraten von über vier Prozent aufrechtzuerhalten. Die Konkurrenz der Schwellenländer in Asien und Osteuropa drohe zu enteilen.

So müssen die neuen Straßen nicht nur Vororte mit Zentren sowie Großstädte mit fernen Landstrichen verbinden, sondern auch die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich überwinden. Mit Deregulierung, nied­rigen Unternehmensteuern und finanziellen Anreizen für ausländische Investoren hat sich Kolumbien Wachstum erkauft. Doch während man im Finanzviertel Bogotás in schicken Restaurants speist, hausen in den Slums Millionen in Buden aus Backsteinen und Brettern. Noch immer lebt ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, die Vermögensverteilung in Kolumbien ist ungleich wie nirgendwo in der Welt. Auch wenn die Regierung die Rebellen empfindlich geschwächt hat und nun Friedensverhandlungen führt: Nach wie vor strömen vertriebene Bauern in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Großstädte - wo sie Elendsviertel erwarten.

Slums und Shoppingmalls
Wie nah Arm und Reich beieinanderliegen, zeigt eine Fahrt durch die Hauptstadt. Nur wenige Kilometer von der mondänen Shoppingmeile Zona Rosa erstreckt sich das Armenviertel namens Kennedy, wo über eine Million Menschen wohnen. Kinder führen inmitten des Autolärms Kunststücke auf und betteln um Geld, Obdachlose kauern auf Grünstreifen zwischen den Spuren.

"Die Menschen haben den Glauben an die U-Bahn verloren", sagt ­Sebastian Ariás, "dabei wird sie ihr Leben verbessern." Er ist noch keine 30 Jahre alt und für die Kommunikation des Projekts verantwortlich. In Kennedy heißt das vor allem Zweifel ausräumen: Damit die Bewohner während der Bauarbeiten ihre Häuser räumen, bietet ihnen die Stadt neue Unterkünfte und Entschädigungen in Höhe der kompletten Jahreseinahmen ihrer Geschäfte.

Auf Papierplänen zeigt Ariás, wie sich die Gegend verwandeln soll: in Parks, künstliche Seen, breite Bürgersteige statt Autos, Lärm und Stau. Und statt vier Stunden im Verkehr zu stecken, könnten Eltern sich um die Bildung ihrer Kinder kümmern, hofft er. Die U-Bahn werde den Reichtum der Stadt besser verteilen.

Er träumt von einem neuen Kolumbien - einem Land mit Wohlstand für alle und modernen Städten wie in Europa und den USA. Es ist noch ein langer Weg.

Investor-Info

Wirtschaft in Kolumbien
Die wichtigsten Fakten
Dank eines streng wirtschaftsliberalen Kurses ist ­Kolumbien zur viertgrößten Volkswirtschaft Südamerikas nach Brasilien, Argentinien und Venezuela ­aufgestiegen. Seit 2000 gelingt es, die Arbeitslosenquote zu drücken - von über 17 auf zehn Prozent. ­Zuletzt hat sich das Wachstum allerdings auf knapp vier Prozent abgeschwächt. Die wichtigsten Exportgüter des 47 Millionen Einwohner zählenden Landes sind Kaffee, Kohle, Öl, Gas und Eisen-Nickel.

* Kolumbien hat 50 Städte mit über 200 000 Einwohnern. Das Land profitiert vom Zugang zum Pazifik und Atlantik. Dank der zentralen Lage sind die Wirtschaftsmächte USA, Mexiko und Brasilien nah.

* Seit 2002 haben sich die Exporte verfünffacht, zugleich sank die Inflation von 7,5 auf 2,5 Prozent - Brasiliens Teuerungsrate ist doppelt so hoch.

* Bogotá steht fast für ein Viertel der gesamten Wirtschaftsleistung. Nirgendwo sonst in Südamerika wird so viel Luftfracht abgewickelt.

* Kolumbien wird für Investoren wichtiger: Die Bank JP Morgan will den Anteil kolumbianischer Anleihen in ihrem bekannten Index für Schwellenländer-Bonds auf acht Prozent mehr als verdoppeln.

* Größter Handelspartner sind traditionell die USA. Die Geschäfte mit Deutschland wachsen schnell.

Investment
ishares MSCI Colombia Capp.
Wegen der Schwellenländerkrise gerieten kolumbianische Aktien zuletzt unter Druck. Mutige können nun mit einem ETF auf die angelaufene Erholung setzen. Das Papier bildet den MSCI-All-Colombia-Capped-Index ab, der ein breites Portfolio mit nicht zu großen Einzelgewichten anstrebt. Internationale Firmen mit Kolumbien-Engagement als Beimischung dämpfen das Risiko. Finanz- und Energietitel wie Ecopetrol und Bancolombia dominieren.
ISIN: US46434G2021