Citi-Kolumne Dirk Heß

Aktien: Gefährlicher Überschwang?

02.09.20 13:44 Uhr

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Aktien: Gefährlicher Überschwang? | finanzen.net

Haben sich die Aktienmärkte von der Realwirtschaft abgekoppelt? Fast könnte man das mit Blick auf die starken Kursgewinne meinen. Bei näherer Betrachtung war die Rally aber nur logisch.

Verrückte Monate liegen hinter den Anlegern. Wie verrückt, zeigen allein diese beiden Zahlen: 9,7 und 29,0. Um 9,7 Prozent schrumpfte das deutsche Bruttoinlandprodukt (BIP) im zweiten Quartal - ein in der Geschichte der Bundesrepublik nie dagewesener Wirtschaftseinbruch. Bei der zweiten Zahl handelt es sich um die prozentuale Performance des DAX im gleichen Zeitraum. Plus 29,0 innerhalb von nur drei Monaten - auch das ist ein historischer Wert. Angesichts der Diskrepanz zwischen der Konjunkturentwicklung und der Aktienmarktperformance überrascht es nicht, dass zahlreiche Anlageexperten davor warnen, dass sich die Aktienkurse von der Realwirtschaft abgekoppelt hätten. Selbst die Bank der Zentralbanken, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), sah sich in ihrem Ende Juni veröffentlichten Jahresbericht dazu genötigt, darauf hinzuweisen, dass die Aktienkurse nicht mehr im Einklang mit der schwachen Wirtschaftsentwicklung stehen würden.

Hat sich an den Aktienmärkten eine Blase gebildet, die jetzt zu Platzen droht? Ein Blick auf die Bewertungen scheint diese Einschätzung zunächst zu stützen. So liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis vieler bekannter Aktienindizes wie dem DAX (KGV: 16,2) oder dem EURO STOXX 50 (KGV: 17,0) am oberen Rand des langjährigen Normbereichs oder ist wie beim S&P 500 (KGV: 21,7) oder beim japanischen Nikkei 225 (KGV: 20,7) bereits darüber hinaus enteilt. Die Zahlen zum KGV basieren dabei auf die für die kommenden zwölf Monaten erwarteten Unternehmensgewinne (Quelle: Bloomberg). Gleichwohl sind die Bewertungen, blickt man etwa auf die New-Economy-Blase zur Jahrtausendwende, noch nicht wirklich im Reich der Fantasie angekommen. Dass Aktien gefragt sind hat stichhaltige Gründe:

  1. Da ist zum einen die viel zitierte Alternativlosigkeit. Mit ihrer ultraexpansiven Geldpolitik, die durch die Corona-Krise noch weiter gelockert wurde, haben die Zentralbanken die Märkte zum einen beruhigt. Zum anderen mit dem Nebeneffekt, dass verzinsliche Anlagen wie Bankeinlagen oder Staatsanleihen entweder keine oder so gut wie keine Erträge mehr abwerfen. Das Gegenteil ist der Fall: In fast allen wichtigen Industrieländern sind die Realrenditen inzwischen ins Minus gedreht bzw. sind noch tiefer in den roten Bereich gerutscht. Dazu ein Beispiel: Nach Angaben der Deutschen Bundesbank liegt die erwartete Realrendite von 10-jährigen Bundesanleihen aktuell bei minus 2,1 Prozent (erwartete Realrendite = Nominalrendite - Inflationserwartungen). Das heißt, wer heute 50.000 Euro zu diesem Satz anlegt, erhält preisbereinigt in zehn Jahren nur noch rund 40.000 Euro zurück. Ein Minus von 20 Prozent. Das relativiert das Risiko von Aktien. Immer mehr Anleger kehren daher in den Aktienmarkt zurück. Flossen in Europa im ersten Quartal nach Angaben der Fondsratingagentur Morningstar aus Aktienfonds per Saldo noch 41 Milliarden Euro ab, erhöhten sich die Bestände im zweiten Quartal netto um 51 Milliarden Euro.
  2. An der Börse wird die Zukunft gehandelt, lautet ein bekannter Anlegerspruch. Und um die steht es gar nicht so schlecht. Beispiel Konjunktur: In zahlreichen Ländern haben die Einkaufsmanagerindizes die Expansionsschwelle wieder überschritten. Auch wenn das angesichts des vorausgegangenen Einbruchs keine wirkliche Überraschung darstellt, ist das ein ermutigendes Signal für eine V-förmige Erholung der Wirtschaft. Ein anderes Beispiel sind die Unternehmensgewinne. Sie sind zwar im zweiten Quartal bei den im europäischen Leitindex STOXX EUROPE 600 Index vertretenen Unternehmen im Schnitt um 51,9 Prozent eingebrochen. Gleichwohl wurde unter Analysten ein noch schlimmerer Absturz erwartet. So fällt die jüngste Quartalssaison deutlich besser aus als prognostiziert. Nach Angaben von Refinitiv, einer Tochter von Thomson Reuters, haben per 18. August 2020 rund 60 Prozent der STOXX-EUROPE-600-Unternehmen die Gewinnerwartungen der Analysten im zweiten Quartal 2020 übertroffen. Im Schnitt liegt diese Quote bei nur 55 Prozent.
  3. Angesichts des enormen Tempos der Kurserholung haben es viele Anleger verpasst, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Sie sind immer noch zu defensiv positioniert. Dies zeigen beispielsweise Umfragen wie die von Sentix. Diese Investoren könnten Kursrücksetzer als Gelegenheit nutzen, um Aktienpositionen zu eröffnen beziehungsweise diese auszubauen. Will heißen: Das Absturzrisiko im Fall einer möglichen zweiten Verkaufswelle dürfte geringer sein als befürchtet.
  4. Zweifelsohne sind die Folgen der Corona-Pandemie für viele Unternehmen verheerend. Das gilt insbesondere für Firmen, die in konjunktursensiblen Sektoren wie der Autobranche, der Unterhaltungsindustrie oder im Tourismus tätig sind (Consumer Discretionary). Für andere Unternehmen wiederum bringt die Corona-Krise aber auch die Chance für neue Wachstumsschübe. Dazu zählen insbesondere die großen Technologiekonzerne wie Apple, Alphabet, Microsoft, Amazon und Facebook. Und genau diese Börsenriesen sind für den größten Teil der Kurserholung verantwortlich. So kommt das genannte Quintett in dem mehr als 1.600 Aktien umfassenden Weltleitindex MSCI World auf ein Gewicht von knapp 14 Prozent. Damit sind diese fünf Aktien für die Performance des MSCI World bedeutsamer als alle Konjunkturzykliker (Consumer Discretionary) zusammengenommen, die im besagten Index insgesamt mit nur 11,3 Prozent gewichtet sind.

Die genannten Punkte zeigen, dass die Kurserholung an den Aktienmärkten nicht so sehr von der realen Welt entkoppelt ist, wie man angesichts des hohen Tempos meinen könnte, sondern vielmehr logischen Gründen folgt. Insbesondere von der Geldpolitik bzw. dem anhaltenden Zinsnotstand dürften auch in Zukunft positive Impulse für Aktien ausgehen. Gleichwohl ist die Luft nach oben deutlich dünner geworden. Schließlich haben Aktien mit ihrem rasanten Kursanstieg eine dynamische Verbesserung der Fundamentaldaten bereits vorweggenommen. Das Tempo der Erholung wird daher kaum beizubehalten sein. Anleger sollten sich in den kommenden Monaten auf eine gemächlichere Gangart einstellen. Ein Problem muss das nicht sein. Denn mit strukturierten Anlagelösungen wie Discount- oder Bonus-Zertifikaten lässt sich auch eine Seitwärtsentwicklung rentabel überbrücken.

Dirk Heß, Finanzexperte der Citigroup, schreibt zu aktuellen Markt- und Derivate-Themen. Als Co-Head EMEA Public Listed Products Sales & Distribution bei der Citi besitzt er langjährige Expertise in allen Fragen rund um Börse und Investments. In seinem regelmäßigen Kommentar gibt Dirk Heß fundiertes Fachwissen weiter. Die Citigroup ist seit dem Jahr 1989 als Emittent von strukturierten Produkten permanent am deutschen Markt vertreten und feierte 2014 ihr 25-jähriges Jubiläum.

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