Börsenweisheit

"Sell in May": Sollten Anleger das Wall-Street-Sprichwort befolgen und sich im Mai von Aktien trennen?

10.05.21 21:22 Uhr

"Sell in May": Sollten Anleger das Wall-Street-Sprichwort befolgen und sich im Mai von Aktien trennen? | finanzen.net

Eine alte Börsenweisheit besagt, dass sich Anleger im Mai von ihren Aktien trennen und sich vom Markt zurückziehen sollen. Erst im Herbst sei eine Rückkehr aufs Börsenparkett sinnvoll. Experten sehen diese Strategie allerdings kritisch.

Werte in diesem Artikel

• Vekaufsaktion im Mai?
• Schwache Phase historisch belegt
• Richtiger Zeitpunkt entscheidend

"Sell in May", St. Leger Day und der Halloween-Effekt

"Sell in May and go away, but remember to come back in September", lautet eine alte Börsenweisheit. Konkret bedeutet dieser Ratschlag, dass Anleger ihre Titel verkaufen und Gewinne mitnehmen, im September aber wieder in den Handel einsteigen sollen. Das Sprichwort geht bis auf die 1930er-Jahre zurück, wie Brett Arends von "MarketWatch" in einem Kommentar erklärt, und stammt wohl aus Großbritannien. "Sell in May, go away, and don't come back till St. Leger Day" lautete der Leitspruch damals noch. Der St. Leger Day verweist auf ein berühmtes Pferderennen, das jährlich Mitte September stattfindet. "Es bezieht sich auf den Brauch, die Stadt London zu verlassen und aufs Land zu fahren, um den heißen Sommermonaten zu entkommen", erklärt auch Carter Worth von Cornerstone Macro gegenüber CNBC. Eine neuere Version der Börsenweisheit, die auch als "Halloween-Effekt" bekannt ist, besagt sogar, dass sich ein erneuter Markteinstieg erst wieder nach dem 31. Oktober lohnt, ergänzt Arends.

Studie untersucht weltweites Phänomen

Doch was ist dran an der Börsenlegende? Arends verweist auf eine Studie von Ben Jacobsen und Cherry Yi Zhang, die erstmals 2012 veröffentlicht wurde und den Halloween-Effekt anhand von historischen Daten zu allen Aktienmarktindizes weltweit untersuchte. "In keinem der 65 Länder, für die wir Gesamtrenditen und kurzfristige Zinssätze zur Verfügung haben - mit Ausnahme von Mauritius - können wir einen ‚Sell in May‘-Effekt ausschließen", ist in der Forschungsarbeit zu lesen. "Der Effekt scheint bemerkenswert robust zu sein, da die Renditen im Zeitraum November bis April durchschnittlich 4 Prozent höher sind als im Zeitraum Mai bis Oktober. […] Die weltweiten Überschussrenditen während des Sommers scheinen negativ zu sein (ca. -1 Prozent), und zwar oft signifikant, was auf eine flache oder negative Risiko-Rendite-Relation hindeutet. Nur für Mauritius finden wir eine signifikant positive Risiko-Rendite-Relation zwischen Mai und Oktober." Demnach seien historisch gesehen alle Renditen des Aktienmarktes in den Wintermonaten entstanden, während die Renditen in den Sommermonaten in der Regel nicht besser ausfielen als die, die man erzielt, wenn man sein Geld auf der Bank anspart, so Arends.

Credit Suisse-Analyst: Kein Grund für Marktrückzug

"Jede Anlagestrategie, die man in einem Reim zusammenfassen kann, ist wahrscheinlich eine schlechte Strategie", entgegnet Credit Suisse-Analyst Jonathan Golub auf das Börsensprichwort gegenüber CNBC. So sei zwar durchaus ein schwaches Muster zwischen Mai und Oktober zu erkennen, einen Grund für einen Rückzug aus dem Markt erkenne er darin jedoch nicht. "Das wäre absolut vernünftig, wenn jeder einzelne Mai genauso aussehen würde wie der Mai des Vorjahres", gibt der Experte zu bedenken. Dies sei aber definitiv nicht der Fall. Stattdessen lasse sich alleine zwischen diesem und letztem Mai eine deutliche Diskrepanz feststellen. So waren die Märkte im letzten Mai noch stark vom Corona-Crash im März gezeichnet und setzten gerade erst wieder zur Erholung an, während in diesem Jahr "phänomenale" Wirtschaftsdaten vorliegen, ist sich Golub sicher. "Ich verkaufe nicht im Mai, und ich würde auch keinem anderen dazu raten", fasst der Analyst der Schweizer Großbank zusammen. "Man ist besser dran, wenn man versucht, ein bisschen länger zu bleiben, als zu früh auszusteigen."

Historisches Sommerloch beim Dow Jones

Auch Arends weist auf die Problematik hin, den richtigen Zeitpunkt zu verpassen. So bestehe die Gefahr, dass man das Börsenparkett nach einem Ausstieg zu früh, zu spät oder - schlimmstenfalls - gar nicht mehr betrete. Dennoch sei es nicht von besonderer Bedeutung, wo der Markt am 31. Oktober steht. Stattdessen ergeben sich die Chancen auf hohe Renditen innerhalb des Zeitfensters von sechs Monaten, das laut Sprichwort gemieden werden soll, glaubt der Kolumnist. Dazu habe er historische Daten des Dow Jones untersucht und herausgefunden, dass es fast immer einen "Sommer-Ausverkauf" gegeben habe. "In 105 von 120 Jahren, oder 88 Prozent der Zeit, hat der Aktienmarkt in den sechs Monaten nach dem 1. Mai einen Rückgang verzeichnet", fasst Arends zusammen. Demnach konnten Anleger in neun von zehn Jahren ihre Fonds Anfang Mai verkaufen und im Laufe der folgenden sechs Monate günstiger zurückkaufen. Durchschnittlich sei ein Rückgang von 8 Prozent zu erkennen, und zwar vom 1. Mai bis zum Tiefpunkt im Sommerloch. Der Dow Jones sei in diesem Zeitraum mindestens um 5 Prozent gesunken, in fast jedem dritten Jahr sei das Minus sogar zweistellig gewesen. Auch viele Börsencrashs hätten sich in den Sommermonaten abgespielt. Ein Rückkauf sei also dann zu empfehlen, wenn der Markt um mindestens 5 Prozent gefallen sei, spätestens aber an Halloween. "All die Jahre, in denen wir ein Schnäppchen gemacht haben, würden die wenigen Jahre, in denen es keins gab, mehr als ausgleichen", so Arends.

Schwache Phase kein Grund für Ausstieg

Dennoch empfehle es sich nicht, den Markt im Mai zu verlassen, glaubt Carter Worth. Demnach haben die Märkte in den letzten sechs Monaten stark performt, und auch mit einer schwächeren Phase sei nun zu rechnen. "Nach besonders guten Sechsmonatsläufen von November bis April sind die darauffolgenden sechs Monate glanzlos", erklärt der Markttechniker gegenüber CNBC. Von saisonalen Anlagestrategien rät der Experte aber ab. "Der sechsmonatige Zeitraum von November bis April hat höhere Renditen geboten als der sechsmonatige Zeitraum von Mai bis Oktober, 1896 bis 2020", so Worth. "Aber die bei weitem beste Strategie ist, wie alle wissen, das Kapital das ganze Jahr über im Markt zu halten."

Steht den Märkten eine Sommer-Rally bevor?

Auch Stephen Suttmeier von der Bank of America erkennt einen klaren Abwärtstrend beim S&P 500 im Zeitraum zwischen Mai und Oktober, dennoch sei historisch eine positive Rendite zu erkennen gewesen. Statt einer "Sell in May"-Strategie glaubt der Analyst, dass das Potenzial für eine Sommer-Rally gegeben sei. "Anstelle von 'im Mai verkaufen und weggehen' sollte es 'im Mai kaufen und im Juli/August verkaufen' heißen", schreibt Suttmeier in einer Kundennotiz, die CNBC vorliegt. "Die monatliche Saisonalität legt nahe, im starken Monat April zu verkaufen, die Schwäche im Risk-Off-Monat Mai zu kaufen und im Juli bis August zu verkaufen, vor dem September, der der schwächste Monat des Jahres ist." Historisch bedingt kann der Sommer sogar im ersten Amtsjahr eines neuen US-Präsidenten noch stärker ausfallen, wie aus Forschungsdaten des Strategen hervorgeht. "Diese Frühjahr-Sommer-Rally und Herbstkorrektur wird im ersten Jahr des Präsidentschaftszyklus verstärkt, wobei der Markt von April bis Juni im Durchschnitt um 5,5 Prozent steigt und von August bis Oktober im Durchschnitt um 2,4 Prozent fällt", wie aus Suttmeiers Notiz laut CNBC zu entnehmen ist.

Redaktion finanzen.net

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