Wall Street vor dem Jahr der zwei Hälften - Auf Rally folgt Kater
Fast elf Jahre ist der Aufschwung des US-Aktienmarkts nun schon alt. Und allen Unkenrufen zum Trotz stehen die Chancen für eine Fortsetzung laut Experten nicht schlecht.
"Ein Aufwärtszyklus stirbt nicht, nur weil er alt ist," sagt Stratege Mislav Matejka von der Bank JPMorgan mit Blick auf die US-Konjunktur, die dem Aktienmarkt seit Jahren Rückenwind verleiht. Allerdings zeichnen sich am Horizont einige dunkle Wolken ab, so dass 2020 zweigeteilt verlaufen könnte. Gerade der ungelöste US-chinesische Handelsstreit, die US-Notenbank Fed und die US-Präsidentschaftswahl könnten im späteren Jahresverlauf zu Spielverderbern werden.
Vorerst sprechen die Vorzeichen für weitere Kursgewinne. Gerade große, institutionelle Investoren hielten sich laut Matejka zuletzt eher zurück und könnten bald wieder mehr Geld in Aktien stecken. So sei ein Wirtschaftsabschwung in den USA zumindest in den kommenden Quartalen unwahrscheinlich. Denn die zuletzt teils angeschlagene Stimmung in der Industrie dürfte sich erholen und die jüngsten Leitzinssenkungen der US-Notenbank Fed sollten der Wirtschaft im ersten Halbjahr Rückenwind liefern. Die Experten der Investmentbank Goldman Sachs rechnen darüber hinaus mit ungebremster Kauflaune der US-Konsumenten, die eine wichtige Stütze der Wirtschaft sind.
Auch die Charttechnik spricht für weitere Kursgewinne, wie Frederik Altmann von Alpha Wertpapierhandel erklärt. Gerade nach den Rekordhochs der wichtigsten US-Indizes Dow Jones 30 Industrial, S&P 500 und NASDAQ 100 gebe es vorerst keine Hürden mehr. Auf Basis der vergangenen Entwicklung errechnet Altmann für den breit gefassten S&P 500 ein Ziel von rund 3480 Punkten; sogar 3640 Zähler wären bei fortgesetztem Schwung möglich. Damit sieht er bis zu 13,6 Prozent Luft nach oben. Dem technologielastigen Nasdaq 100 traut der Experte ein Plus von mehr als zwölf Prozent auf 9700 Punkte zu. Sogar die Marke von 10 000 Punkten sei denkbar. Spätestens da sollten Anleger aber vorsichtig werden.
Ganz so große Sprünge wie 2019, als der Dow Jones mehr als ein Fünftel, der S&P um mehr als ein Viertel und der Nasdaq 100 um mehr als ein Drittel zulegten, scheinen damit eher unwahrscheinlich. Denn eines steht fest: Nach den steilen Kursanstiegen 2019 ist bereits reichlich Positives in die Kurse eingepreist, Risiken wurden zuletzt eher links liegen gelassen. Wie viele Vorschusslorbeeren verteilt wurden, werde beim Blick auf die in Summe stagnierenden Gewinne der S&P-500-Unternehmen deutlich, erklärt der Chef-Anlagestratege der Commerzbank, Chris-Oliver Schickentanz. Er sieht zwar noch keine Blase am Aktienmarkt, gibt aber zu bedenken, "dass die fundamentalen Erwartungen an das Jahr 2020 nicht ohne sind".
Risiken gibt es viele: "Ein polarisierender US-Präsidentschaftswahlkampf, Margendruck bei Unternehmen, hohe Unternehmensschulden und kaum mehr Zinssenkungen durch die wichtigen Notenbanken (?) werden die Anleger in 2020 auf die Probe stellen", schreiben die Experten der schweizerischen Bank Credit Suisse in ihrem Jahresausblick. Hinzu kommen der US-chinesische Handelsstreit und die weiter schwelenden Risiken rund um den Brexit.
JPMorgan-Stratege Matejka rechnet denn auch mit einem Jahr der zwei Hälften. Während der Aktienmarkt seinen guten Lauf zunächst fortsetzen sollte, dürfte ein Teil der Gewinne in der zweiten Jahreshälfte zusammenschmelzen. Denn dann könnte die hohe Verschuldung vieler Unternehmen stärker ins Bewusstsein der Anleger rücken, ebenso wie eine mögliche Rezession, deren Wahrscheinlichkeit nach der US-Präsidentschaftswahl steigen könnte.
Gerade dieses politische Hauptereignis des Jahres könnte den Investoren die Stimmung ein wenig verderben, glaubt Matejka. Eigentlich seien Wahljahre gute Börsenjahre. In diesem Fall könnten sich am Ende jedoch zwei politische Extreme gegenüberstehen, die bei Investoren den Eindruck erweckten, dass die Börse so oder so zum Verlierer der Wahl werde. Denn sollten die Demokraten gewinnen, könnte das eine stärkere Regulierung und ein aus Börsensicht ungünstigeres Steuersystem bedeuten. So macht Elizabeth Warren, parteilinke Anwärterin auf eine Präsidentschaftskandidatur für die Demokraten, unter anderem die Zerschlagung der Tech-Riesen zu einem Eckpunkt ihres Wahlprogramms.
Sollte hingegen Trump eine zweite Amtszeit antreten, könnte er wie von der Leine gelassen handeln, da eine nochmalige Wiederwahl nicht möglich ist. Trump könnte dann im Handelsstreit mit China auf mehr Konfrontation setzen, der Zollkrieg könnte eskalieren. Vor diesem Hintergrund glaubt Matejka, dass gerade die zweite Hälfte eines insgesamt positiven Börsenjahres 2020 holprig wird.
Noch mehr Wasser in den Wein gießt Marktstratege Albert Edwards von der Société Générale. Er ist ein langjähriger Kritiker der Geldpolitik insbesondere der US-Notenbank, und verweist immer wieder auf verdeckt schwelende Risiken am Arbeitsmarkt sowie in puncto Inflation. Edwards sieht in der jüngsten Entwicklung der Einzelhandelsumsätze ein mögliches Signal einer nachlassenden Kauflaune der US-Konsumenten. Das Fass zum Überlaufen bringen könnte dann eine rasche Abkühlung des US-Arbeitsmarktes, erklärt er./mis/ag/ck/fba
--- Von Michael Schilling, dpa-AFX ---
NEW YORK (dpa-AFX)
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