Mögliche De-Integration der EU setzt Kreditqualität einzelner Staaten unter Druck
Standard & Poor’s Ratings Services beobachtet zunehmende Anzeichen für eine mögliche Umkehr der jüngsten Integrationsschritte in der EU.
Dieser Trend könnte sich negativ auf die Kreditwürdigkeit einzelner Staaten auswirken, so Standard & Poor’s in zwei im Dezember 2015 veröffentlichten Studien (The Risk Of A More Disjointed EU: What It Might Mean For Sovereign Ratings" und "What’s Ahead For European Sovereigns"). Insbesondere stellt sich die Frage, inwiefern künftige Krisen bewältigt werden können. Dies hängt stark davon ab, wie die Reaktion der Staatengemeinschaft auf solch eine Krise ausfallen würde.
Grexit und Brexit
Der letztes Jahr drohende Austritt Griechenlands aus dem Euro konnte zwar abgewendet werden. Sowohl aus politischer als auch aus finanzieller Sicht hatte dies jedoch seinen Preis. So rückte das bisherige Tabu eines Austritts aus der Eurozone oder gar der EU in den Bereich des Möglichen - die Mitgliedschaft im Euro und auch in der EU gilt nicht mehr als irreversibel. Die in Großbritannien bis 2017 angekündigte Volksabstimmung über den Verbleib in der Europäischen Union schafft einen weiteren Präzedenzfall. Allerdings bewertet Standard & Poor’s die Auswirkungen auf die EU als nur moderat. Sollten Staaten tatsächlich die Eurozone oder die EU verlassen, wären die Konsequenzen für die Kreditwürdigkeit dieser Staaten wesentlich stärker, da ein so drastischer Schritt die wirtschaftliche Stabilität schwächen und die Wachstumsaussichten auf Jahre einschränken würde.
Wiedereinführung der Grenzkontrollen
Auch die im Schengener Abkommen vereinbarte Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb der EU erfährt derzeit in Teilen der EU eine zumindest temporäre Umkehr. Mehrere Staaten, darunter auch Deutschland und Frankreich, haben im Kontext des anhaltenden Flüchtlingsstroms sowie der Zunahme terroristischer Angriffe wieder Grenzkontrollen eingeführt. Sollte diese Umkehr sich manifestieren, könnte dies Auswirkungen auf die Wirtschaft haben. Sie wäre zudem ein weiterer Hinweis auf die zunehmenden Zentrifugalkräfte, die innerhalb der EU wirken. Diese könnten sich nach und nach in den Ratings niederschlagen. Auch könnten Ratings unter Druck geraten, wenn aus dem Zulauf zu populistischen und euroskeptischen Parteien eine Veränderung der politischen Ziele folgt und den wirtschaftlichen und haushaltspolitischen Strukturreformen weniger Priorität eingeräumt wird.
Krisenreaktionsfähigkeit entscheidend
Insgesamt sei die politische Krisenreaktionsfähigkeit ausschlaggebend, so Standard & Poor’s. Wenn die kollektive Reaktion auf mögliche finanzielle Krisen künftig weniger vorhersagbar ist oder weniger zeitnah und kohärent erfolgt, könnten notwendige Lösungswege in Krisensituationen erschwert werden. Insgesamt könnten dadurch die Risiken für die Kreditwürdigkeit der Staaten steigen.
Von Moritz Kraemer, Global Chief Ratings Officer für Staatenratings bei Standard & Poor’s Ratings Services in Frankfurt
Hier kommentieren jede Woche Analysten von Standard & Poor’s Ratings Services (S&P) die Entwicklungen in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten - und welche Herausforderungen sich daraus für Wachstum und Stabilität ergeben. S&P ist seit 30 Jahren mit inzwischen neun Standorten in Europa vertreten, im Frankfurter Büro arbeiten 120 Mitarbeiter aus 19 Ländern. Mehr Infos unter www.spratings.de
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