Das Märchen von der begrenzten Haftung
Der Rettungsschirm ESM ist in Kraft gesetzt. Er trägt – anders als sein Vorläufer EFSF - das Adjektiv „dauerhaft“.
Damit ist klar: Die Krise ist Normalfall, die „Rettung“, genauer die Umverteilung, wird zum Alltag. Eine Beruhigungspille mit der uns die Politiker ruhigstellen wollen, ist die Aussage von der begrenzten Haftung, mit der Deutschland angeblich für die Krisenländer bürgen muss. Der ESM, so wurde bei der Verabschiedung im Bundestag laut schwadroniert, kann Deutschland höchstens 190 Milliarden Euro kosten. Nicht, dass das nicht eine Menge Geld wäre – es würde die Verschuldung Deutschlands immerhin nahe an die Marke von 100 Prozent des BIP führen.
Dennoch ist es nur ein kleiner Teil der Lasten, die im Zuge der Transfer-, Garantie- und Gelddruckmechanismen auf uns zukommen. Bei näherer Betrachtung ist die Aussage von der begrenzten Haftung nämlich nichts anderes als bewusste Volksverdummung.
Schauen wir uns die verschiedenen Risikotöpfe an, so sehen wir, dass die Risiken nicht nur kaum zu beziffern sind – sie sind sogar unbegrenzt.
1. ESM: Die aktuelle Ausgestaltung des ESM sieht tatsächlich eine maximale Haftung für Deutschland von 190 Mrd. Euro vor. Doch das ist nur eine Bestandsaufnahme. Da im ESM auch die Krisenstaaten haften, die das Geld ja eigentlich bekommen sollen, kann es im Extremfall dazu kommen, dass Deutschland für das gesamte ESM-Volumen von derzeit 700 Mrd. Euro herangezogen wird. Zwar müsste der Bundestag zustimmen. Doch deutet derzeit nichts darauf hin, dass eine Mehrheit der Abgeordneten dem widerspricht
2. Wird der ESM durch zusätzliche Kreditaufnahme am Finanzmarkt gehebelt oder durch zusätzliche Einlagen vergrößert, dann steigt in gleichem Masse das Risiko. Je nach Ausgestaltung steigt entweder die Wahrscheinlichkeit, dass Deutschland für seine 190 Mrd. Euro in Anspruch genommen wird oder es steigt die gesamte Haftungssumme. Allein das Risiko aus dem ESM ist also theoretisch unbegrenzt, wenn man nicht davon ausgeht, dass unsere Volksvertreter einen Riegel vorschieben. Glauben Sie daran?
3. Der ESM öffnet das Tor für Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank. Wer sich unter das Dach des Fonds begibt, erhält quasi als Zugabe einen Gutschein für Anleihenkäufe der EZB. Natürlich sind diese Anleihen in hohem Masse ausfallgefährdet – spätestens dann, wenn keiner mehr bereit ist, frisches Geld nachzuschießen. Denn die EZB hat klar gesagt, dass sie künftig auf ihre Position als bevorrechtigter Gläubiger verzichtet. Kommt es also zum Schuldenschnitt, sind die von der Notenbank gehaltenen Papiere voll dabei. Am Risiko der EZB ist die Bundesbank mit 27 Prozent beteiligt und damit auch der deutsche Steuerzahler. Und auch dies gilt nur solange, wie die Länder, die eigentlich gerettet werden sollen, ihren Teil der Haftung übernehmen – siehe oben. Faktisch ist auch hier das Risiko unbegrenzt.
4. Die Target-Salden der Deutschen Bundesbank sind zwar zuletzt etwas gesunken, liegen aber immer noch bei atemberaubenden 700 Milliarden Euro. Das sind im Wesentlichen deutsche Forderungen gegenüber den Mittelmeerstaaten. Zerbricht der Euro oder scheidet eines der Krisenländer aus dem Euro aus, dann sind diese Gelder in höchster Gefahr. Im ersten Schritt würde ein Forderungsverlust in der Bilanz der Bundesbank aufschlagen, im zweiten Schritt im deutschen Staatshaushalt und damit bei uns Bürgern. Und: 700 Milliarden Euro ist hier noch nicht das Ende der Fahnenstange. Kommt es zu einer Verschärfung der Lage, dürfte diese Zahl deutlich steigen, denn sie entspricht im Kern der Kapitalflucht aus den Krisenstaaten in die vermeintlich sicheren Länder.
Das ifo-Institut führt auf seiner Website einen sogenannten Haftungspegel, der messen soll, was eigentlich nicht zu messen ist: die potenziellen Risiken Deutschlands aus den verschiedenen Hilfsmaßnahmen für die Euroländer. Dort wird unterstellt, dass Deutschland nur den derzeit vorgesehenen Teil der Risiken trägt und beispielsweise der ESM-Rahmen nicht durch den Bundestag erweitert wird. Dennoch liegt der Wert aktuell bei 795 Milliarden Euro und damit bei mehr als dem Vierfachen dessen, was uns die Politiker erzählen. Aber auch das ist nur eine Bestandsaufnahme. Denn beispielsweise Veränderungen bei den Target-Salden schlagen unmittelbar auf den Haftungspegel durch. Realistisch ist daher, wie auch Jens Ehrhardts Börsenbrief „Finanzwoche“ schreibt, dass die gesamten Risiken aus Target, ESM und Anleihekäufen die derzeitige deutsche Staatsverschuldung von zwei Billionen Euro überschreiten. Japan, wir kommen!
Roland Klaus arbeitet als freier Autor in Frankfurt/Main und ist aktiver Investor. Für den amerikanischen Finanzsender CNBC und den deutschen Nachrichtenkanal N24 berichtete er von 2004 bis 2009 von der Frankfurter Börse. Bekannt wurde er durch seine fast zehnjährige Tätigkeit als Moderator und Börsenreporter für die Telebörse auf n-tv. In seinem Buch „Wirtschaftliche Selbstverteidigung“ entwirft er eine Analyse der Schuldenkrise und liefert Ratschläge, wie man sich auf die entstehenden Risiken einstellen kann. Sie erreichen Ihn unter www.wirtschaftliche-selbstverteidigung.de
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