3 Tage vor Brexit

Ringen um längere Brexit-Frist: EU für Brexit-Aufschub - Merkel hält Termin Ende 2019 für möglich

09.04.19 22:01 Uhr

Ringen um längere Brexit-Frist: EU für Brexit-Aufschub - Merkel hält Termin Ende 2019 für möglich | finanzen.net

Großbritannien wird die Europäische Union vermutlich doch deutlich später als geplant verlassen.

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hält eine Verschiebung des Brexits bis Ende 2019 oder Anfang 2020 für möglich. Beim EU-Sondergipfel an diesem Mittwoch werde es um eine flexible Erweiterung des Austrittstermins gehen, sagte die Kanzlerin am Dienstag nach Angaben von Teilnehmern in einer Sitzung der Unionsfraktion im Bundestag. Zuvor hatte sie eineinhalb Stunden lang mit der britischen Premierministerin Theresa May im Kanzleramt über die Lage beraten. May muss damit rechnen, dass die übrigen 27 EU-Staats- und Regierungschefs ihr Bedingungen stellen.

EU-Ratschef Donald Tusk warb erneut für einen Brexit-Aufschub um bis zu ein Jahr. Die Erfahrung habe gezeigt, dass eine Zustimmung des britischen Unterhauses zum Brexit-Vertrag bis Ende Juni unwahrscheinlich sei. Stattdessen würde eine kurze Verschiebung wohl zu immer neuen Sondergipfeln führen, und die andere Arbeit der EU würde davon überschattet. "Deshalb glaube ich, dass wir über eine alternative, längere Fristverlängerung diskutieren sollten", hieß es im Einladungsschreiben für den Brexit-Sondergipfel am Mittwoch.

Der Entwurf der Gipfel-Erklärung, der der dpa vorliegt, lässt das Datum für den Brexit-Aufschub noch offen. Die Bedingungen sind in dem Dokument vom Dienstagabend hingegen deutlich: Sollte London nach dem 22. Mai noch EU-Mitglied sein und dem Brexit-Vertrag vorher nicht zugestimmt haben, müssten die Briten tags darauf an der Europawahl teilnehmen. Andernfalls würde das Land zum 1. Juni ohne Vertrag aus der EU ausscheiden. Das Brexit-Abkommen, das May mit der EU ausgehandelt hatte, werde nicht noch einmal aufgeschnürt.

Zudem müsse Großbritannien sich bereiterklären, bis zum endgültigen Austritt "konstruktiv" und "verantwortungsvoll" zu handeln, heißt es in dem Papier. Das Land müsse alles unterlassen, was die Erreichung der von der EU gesteckten Ziele in Gefahr bringe. Falls beide Seiten den Brexit-Vertrag vor Ablauf der neuen Frist ratifizieren, könnte Großbritannien dem Papier zufolge die EU schon früher als geplant verlassen. Der EU-Austritt würde am 1. Tag des Folgemonats wirksam.

Derzeit ist die Scheidung von der EU für Freitag vorgesehen. Das britische Parlament hat das EU-Austrittsabkommen aber schon dreimal abgelehnt - und eine Mehrheit dafür ist bislang nicht in Sicht.

Merkel sagte den Angaben zufolge, sie sehe die Chance, dass der Brexit-Termin verlängert werde. Eine solche Lösung werde flexibel gestaltet. Bei einer Einigung auf einen Aufschub wäre ein vorheriger Austritt jederzeit möglich, wenn Großbritannien dies so entscheide.

Die EU sei derzeit "in einer historischen Situation", sagte Merkel weiter. Zugleich betonte sie die strategische Bedeutung Großbritanniens. Ein geordneter Brexit sei im Eigeninteresse Deutschlands. Abgeordnete gewannen den Eindruck, dass Merkel den Briten Brücken bauen wolle. Sie wolle offenbar vermeiden, dass die Briten durch immensen Druck in ein ungeordnetes Manöver stürzten.

Merkel und May wollen einen Austritt Großbritanniens aus der EU ohne Abkommen am 12. April verhindern. May will einen weiteren Aufschub bis zum 30. Juni. EU-Ratspräsident Tusk hat dagegen eine flexible Verlängerung um bis zu zwölf Monate vorgeschlagen. Die Entscheidung soll am Mittwochabend oder in der Nacht zum Donnerstag beim Sondergipfel der EU-Staats- und Regierungschefs fallen.

Diplomaten sagten nach einem Ministertreffen in Luxemburg zur Vorbereitung des Gipfels, ein Teil der Mitgliedstaaten sei dafür, die Austrittsfrist - wie von London gewünscht - bis zum 30. Juni zu verlängern. Ein anderer Teil bevorzugt einen längeren Aufschub, um das Risiko erneuter Diskussionen im Sommer auszuschließen.

Die Verpflichtung Großbritanniens zur Teilnahme an der Europawahl soll sicherstellen, dass es keine rechtlichen Probleme gibt, wenn das Land im Sommer noch EU-Mitglied sein sollte, aber keine Abgeordneten gewählt hat. Zudem wollen Mitgliedstaaten erreichen, dass sich die britische Regierung verpflichtet, nicht aktiv in EU-Entscheidungen einzugreifen. Relevant könnte dies etwa bei der Ernennung des neuen EU-Kommissionspräsidenten oder den Verhandlungen über den EU-Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis Ende 2027 sein.

Am Abend traf May den französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Paris zu einem rund einstündigen Gespräch. Frankreich will einem weiteren Aufschub des Brexits nur unter strikten Bedingungen zustimmen. Die ins Spiel gebrachte Verschiebung um ein Jahr erscheine zu lang, hieß es in Élyséekreisen. Paris pocht bei einem Aufschub darauf, dass das gute Funktionieren der EU nicht gestört wird. Falls eine Verlängerung über den Termin der Europawahl im Mai hinaus gewährt werde, könne London nicht vollständig an "Zukunftsentscheidungen" für die Union mitwirken, wie beispielsweise über die Präsidentschaft der Brüsseler EU-Kommission.

Ursprünglich wollte Großbritannien schon am 29. März aus der EU ausscheiden. Doch das Parlament ist im Brexit-Kurs total zerstritten. Die Parlamentarier unterstützten dennoch die Bitte Mays um eine Verlängerung der Brexit-Frist bis Ende Juni. Der Antrag der Regierung bekam am Dienstag im Unterhaus eine große Mehrheit von 420 zu 110 Stimmen. Dass die Parlamentarier überhaupt darüber abstimmen konnten, hatten sie sich erst in der Nacht zum Dienstag per Gesetz gesichert.

Auf der Suche nach einem Weg aus der Brexit-Sackgasse setzten Regierung und Opposition in London ihre Gespräche fort. Labour hatte zuvor kritisiert, dass die Regierung auf ihrer Meinung beharre. Dagegen sagte Justizminister David Gauke der BBC: "Flexibilität von beiden Seiten ist nötig." Nach Angaben eines Regierungssprechers ist das nächste Treffen an diesem Donnerstag geplant.

Die Furcht vor einem chaotischen Brexit wirkt sich auch auf die Weltwirtschaft aus, die in diesem Jahr durch eine Talsohle geht. Bis 2021 würde Großbritannien nach einem Szenario des Internationalen Währungsfonds (IWF) bei einem No-Deal 3,5 seiner Wirtschaftsleistung verlieren. Der Verlust für die EU läge bei 0,5 Prozent./

LONDON/BERLIN/PARIS (dpa-AFX)

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