Geldpolitik

Kampf gegen die Inflation: EZB hebt Leitzins erneut deutlich an - Das sagen Ökonomen

27.10.22 19:55 Uhr

Kampf gegen die Inflation: EZB hebt Leitzins erneut deutlich an - Das sagen Ökonomen | finanzen.net

Die Europäische Zentralbank EZB hat die Leitzinsen für den Euroraum erneut angehoben.

Europas Währungshüter ziehen im Kampf gegen die Rekordinflation die Zinszügel kräftig an. Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) beschloss am Donnerstag eine weitere deutliche Zinsanhebung um 0,75 Prozentpunkte. Damit steigt der Leitzins, zu dem sich Geschäftsbanken frisches Geld bei der EZB leihen können, auf 2,0 Prozent, wie die Notenbank in Frankfurt mitteilte. Mit ihren Zinserhöhungen will die EZB Kredite verteuern, um die Nachfrage zu bremsen und so hohen Teuerungsraten entgegenzuwirken. Die Notenbank stellte weitere Zinserhöhungen in Aussicht.

Wer­bung

Die EZB sei noch nicht fertig mit der Normalisierung der Geldpolitik, sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde. "Die Inflation ist nach wie vor deutlich zu hoch und wird für längere Zeit über dem Zielwert bleiben." Die Notenbank strebt für den Euroraum mittelfristig stabile Preise bei einer Inflationsrate von zwei Prozent an. Die Jahresteuerungsrate war im September im gemeinsamen Währungsraum angetrieben von hohen Energie- und Lebensmittelpreisen auf einen Rekordwert von 9,9 Prozent gestiegen.

"Die Europäische Zentralbank darf nun nicht nachlassen und muss weitere ähnlich große Schritte gehen", mahnte der Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV), Helmut Schleweis. "Gemessen an den inzwischen zweistelligen Inflationsraten genügt das nun erreichte Zinsniveau noch nicht." Nach Einschätzung von Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer sollte die EZB "ihre Leitzinsen in den kommenden Monaten weiter entschieden anheben und sich nicht von der anbahnenden Rezession irritieren lassen".

Wer­bung

Nach langem Zögern hatte der EZB-Rat bei seiner Sitzung am 21. Juli erstmals seit elf Jahren die Zinsen im Euroraum wieder angehoben. Die zweite Erhöhung folgte am 8. September - erstmals in der Geschichte der Notenbank um 0,75 Prozentpunkte. Die EZB hatte die hohe Inflation lange als vorübergehend interpretiert und hatte erst später als beispielsweise die US-Notenbank Fed mit Zinserhöhungen begonnen.

Der sogenannte Einlagensatz, den Kreditinstitute erhalten, wenn sie Geld bei der EZB parken, steigt nach der Entscheidung vom Donnerstag auf 1,50 Prozent. Zur Freude von Millionen Sparern endete mit der ersten Zinserhöhung im Juli auch die Phase der Negativzinsen. Geschäftsbanken müssen seither nicht mehr 0,5 Prozent Zinsen für einen Teil des Geldes zahlen, das sie bei der Notenbank parken. Die meisten Institute schafften in der Folge Negativzinsen für Privatkunden wieder ab und tasten sich bei den Sparzinsen nach oben.

Wer­bung

Zugleich verschärfte die EZB die Bedingungen für langfristige Kredite an Geschäftsbanken. Nach Einschätzung von Michael Peters, Bankenexperte der Bürgerbewegung Finanzwende, war der Schritt überfällig. Die Notenbank hatte zwei Billionen Euro an günstigen Krediten mit langer Laufzeit aufgelegt, um die Folgen der Corona-Krise abzufedern. Die Vereinbarungen zu den besonders günstigen Konditionen waren problematisch geworden, nachdem die Zinserhöhungen es Kreditgebern ermöglicht hatten, diese Gelder auf EZB-Konten zu parken und risikolose Erträge zu erzielen.

Eine weitere Entscheidung auf dem Weg zur Normalisierung der Geldpolitik zeichnet sich zum Ende des Jahres ab. Die EZB werde im Dezember über die Prinzipien der Rückführung ihres allgemeinen Anleihenkaufprogramms APP entscheiden, sagte Lagarde. Zwar stellte die EZB zum 1. Juli 2022 den Kauf neuer Wertpapiere im Rahmen des Programms ein. Gelder aus Papieren, deren Laufzeit endet, werden bislang aber in vollem Umfang wieder neu angelegt. Insgesamt steckte die Notenbank im Rahmen des seit März 2015 genutzten Programms bis Ende September rund 3,4 Billionen Euro in Staatsanleihen und Unternehmenspapiere.

Allerdings gibt es Sorge, mit einer zu schnellen Normalisierung der zuvor jahrelang ultralockeren Geldpolitik die Konjunktur auszubremsen, die ohnehin unter Lieferengpässen und den Folgen des Ukraine-Krieges etwa auf dem Energiemarkt leidet. Die EZB erfülle Erwartungen, gerate aber zunehmend in einen Zielkonflikt, sagte Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Die Wirtschaft im Euroraum schwäche sich weiter ab "und die Risiken einer länger anhaltenden Schwächephase nehmen zu". Die EZB behält sich vor, über Anleihenkäufe hochverschuldeten Eurostaaten unter die Arme zu greifen.

EZB nimmt Rezessionsrisiko in Kauf

Leitzinserhöhungen gelten als probates Mittel im Kampf gegen steigende Teuerungsraten. Die Währungshüter wandeln dabei aber auf einem schmalen Grat: Erfolgen die Zinsanhebungen zu schnell, kann dies den Konjunkturmotor abwürgen und eine Rezession auslösen. Die EZB hat dabei eine schwierige Gesamtgemengelage zu beachten, denn die Wirtschaft leidet bereits jetzt masiv unter anhaltenden Lieferengpässen und den Folgen des Ukraine-Krieges etwa auf dem Energiemarkt.

Das sagen Ökonomen

Ulrich Kater, Chefvolkswirt Dekabank:

"Eine entschlossene Inflationsbekämpfung durch einen großen Zinsschritt ist das einzig richtige Signal, welches die EZB senden musste. Es wird nicht die letzte Zinserhöhung sein. Zwar wird sich die Hälfte der gegenwärtig hohen Inflationsraten mit einer Beruhigung der Energiepreise im kommenden Jahr von selbst zurückbilden. Die andere Hälfte der Inflation wird jedoch über Zweitrundeneffekte noch lange nachwirken. Hier wird die EZB noch lange gegenhalten müssen und das bedeutet, dass die Zinsen in einer Rezession nicht gleich wieder gesenkt werden können."

Thomas Gitzel, Chefökonom VP Bank:

"Die EZB rammt heute einen weiteren Pfeiler ein. Von entscheidender Bedeutung ist nun allerdings, wie es im kommenden Jahr nach der Zinsanhebung im Dezember weitergeht. Da die Inflationsraten aufgrund deutlich gestiegener Energiepreise hoch bleiben werden, muss EZB-Chefin Christin Lagarde im kommenden Jahr wohl weitere Zinsanhebungen verkünden - trotz einer Rezession in der Eurozone. Aus dem zweiprozentigen Hauptrefinanzierungssatz dürfte wohl schon bald ein dreiprozentiger werden."

Jan Holthusen, Bereichsleiter DZ Bank Research

"Zwar können die Notenbanker kurzfristig nur wenig dazu beitragen, die Teuerung zu dämpfen. Ihre entschlossene Haltung demonstriert aber, dass die Institution gewillt ist, die massive Zielverfehlung von zwei Prozent nicht auf Dauer zu tolerieren. Trotzdem ist die EZB mit ihren Zinserhöhungen zu spät dran. Erste Erhöhungen wären schon vor einem Jahr angebracht gewesen. Nun versucht die EZB mit Jumbo-Zinsschritten Schadensbegrenzung zu betreiben. Das Zeitfenster könnte knapp werden, wenn die Eurozone in eine tiefe Rezession rutscht, was wahrscheinlich ist. Weitere Zinserhöhungen wären in einem solchen Umfeld zwar nicht unmöglich, aber deutlich schwerer zu vermitteln."

Carsten Brzeski, Chefvolkswirt ING

"In der gegenwärtigen Situation einer drohenden Rezession und großer Unsicherheit ist es eine Sache, die Geldpolitik zu normalisieren, aber es ist eine andere Sache, sich in einen restriktiven Bereich zu bewegen. Mit der heutigen Zinserhöhung ist die EZB dem Punkt sehr nahe gekommen, an dem aus normal restriktiv werden könnte."

Michael Hünseler, Leiter aktives Anleihemanagement bei der MEAG:

"Die Erläuterung des Zinsentscheids deutet auf eine verhaltenere Geldpolitik hin, als der Markt bisher einpreiste. Es ist unverändert von einem weiteren Zinsschritt in Höhe von 50 Basispunkten bei der nächsten Sitzung im Dezember auszugehen, was den Leitzins auf 2,5 Prozent bringen wird. Dass es danach jedoch im selben Tempo weitergehen könnte, ist nun unwahrscheinlicher geworden. Für die Kapitalmärkte bedeutet dies zunächst einmal ein Aufatmen, da die steigenden Zinsen bereits Rezessionsängste auslösten und auf die Aktienkurse drückten. Auch der Renditeaufschlag italienischer Staatsanleihen gegenüber deutschen Bundesanleihen, der gerne als Barometer für die Risikobereitschaft der Anleger genutzt wird, profitierte von der EZB-Kommunikation und ging spürbar zurück."

Ralf Umlauf, Analyst Landesbank Hessen-Thüringen:

"Die EZB hat die Markterwartungen zinspolitisch nicht enttäuscht und macht deutlich, dass sie sich dem Ziel der Preisniveaustabilität verpflichtet fühlt. So deutet die Zinsguidance auf das Erfordernis weiterer Zinserhöhungen hin, denn der EZB-Rat geht auf Grundlage seiner aktuellen Einschätzung davon aus, dass er die Zinsen in den nächsten Sitzungen weiter erhöhen wird, um die Nachfrage zu dämpfen und dem Risiko einer Aufwärtsverschiebung der Inflationserwartungen vorzubeugen. Wie bisher ist der zukünftige Zinspfad von den eingehenden Daten und den Inflationsperspektiven abhängig. Marktseitig scheint Erleichterung vorzuherrschen, da es keinen QT-Beschluss gegeben hat."



Redaktion finanzen.net mit Material von dpa (AFX)

Bildquellen: Michael Gottschalk/Photothek via Getty Images, einstein / Shutterstock.com