Euro am Sonntag-Meinung

Indien: Ein Elefant wird zum Tiger!

23.04.17 03:00 Uhr

Indien: Ein Elefant wird zum Tiger! | finanzen.net

Indien dürfte China bald in Sachen Wachstum abhängen. Das bedeutet viele neue Chancen für internationale Unternehmen und ihre Aktionäre. Doch es braucht auch spezielles Wissen, um erfolgreich zu sein.

von Wilfried Aulbur, Gastautor von Euro am Sonntag

Indien ist schon heute die siebtgrößte Volkswirtschaft der Welt und holt im globalen Wettbewerb weiter auf: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wird nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) bis zum Ende der Dekade jährlich um über sieben Prozent wachsen. Bis 2020 dürfte Indien somit ein BIP von rund 3,3 Billionen Dollar erreichen. Das entspricht etwa der wirtschaftlichen Leistung Deutschlands im Jahr 2015. Diese Zahlen machen Indien zu einem spannenden Ziel für ausländische Unternehmen.

Wer­bung
Öl, Gold, alle Rohstoffe mit Hebel (bis 20) via CFD handeln (schon ab 100 €)

Partizipieren Sie an Kursschwankungen bei Öl, Gold und anderen Rohstoffen mit Hebel und kleinen Spreads! Mit nur 100 Euro können Sie durch einen Hebel mit der Wirkung von 2.000 Euro Kapital handeln.

Plus500: Beachten Sie bitte die Hinweise5 zu dieser Werbung.


Gerade für die Automobilbranche, die chemische und pharmazeutische Industrie sowie die Medizintechnik ist der Subkontinent interessant. So ist zum Beispiel Indiens Pkw-Markt schon heute volumenmäßig auf dem Niveau Deutschlands - und das mit einer deutlich stärkeren Wachstumsdynamik.

Entsprechend groß ist das Interesse der Unternehmen an Indien: Die ausländischen Direktinvestitionen haben sich in den vergangenen vier Jahren mehr als verdoppelt und liegen mittlerweile bei rund 46 Milliarden Euro. Das entspricht 2,1 Prozent des BIP (2015). Damit liegt Indien vor den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland und ist vergleichbar mit China, wo die ausländischen Direktinvestitionen 2,27 Prozent des BIP ausmachen.

Auch der Anteil der Im- und Exporte am indischen BIP ist mit 15 bis 20 Prozent vergleichbar mit China. Es sieht so aus, als ob sich der indische Elefant in einen Tiger verwandelt hat. Die Frage ist nur, ob er tatsächlich in der Lage ist, den Kampf mit dem chinesischen Drachen aufzunehmen.

Im Wirrwarr potenzieller Geschäftsmöglichkeiten

Indiens Entwicklung seit der Liberalisierung im Jahr 1991 ist in der Tat positiv und beeindruckend. Dennoch gibt es zahlreiche Herausforderungen, die Unternehmen im indischen Alltag meistern müssen: politische Entwicklungen, die den regulatorischen Rahmen kurzfristig ändern, Korruption in Behörden und Unternehmen, Schwierigkeiten, geeignete Grundstücke zu finden - die Liste der Hemmnisse für Doing Business in Indien ist lang.

Dazu kommt, dass die indischen Konsumenten ihre Kaufentscheidungen von einer Vielzahl von Kriterien abhängig machen. So erwarten sie zum Beispiel bei Autos nicht nur einen niedrigen Preis, sondern haben auch individuelle Anforderungen an Styling, Raum und digitale Features. Das stellt insbesondere für internationale Unternehmen ein Problem dar, deren Kosten- und Organisationsstrukturen meist nicht viel Spielraum lassen, um sich an diese speziellen Gegebenheiten des indischen Markts anzupassen.

Es braucht daher ganzheitliche Ansätze, um in Indiens volatilem und komplexem Umfeld erfolgreich zu sein: Ein starker Fokus auf Effizienz muss mit Innovationen kombiniert werden, die zu den Eigenheiten des Markts passen; ein gutes Verständnis des eigenen Leistungsversprechens hilft, sich auf Kernthemen zu konzentrieren und sich nicht im Wirrwarr potenzieller Geschäftsmöglichkeiten und Geschäftsmodelle zu verstricken; eine klare Ausrichtung der Organisation erlaubt schnelle und flexible Reaktionen auf Veränderungen im Markt; und eine starke Führung mit gutem Marktverständnis macht es möglich, neu entstehende Chancen erfolgreich zu nutzen.

Was dies im Einzelnen heißt, lässt sich am besten anhand von Beispielen verdeutlichen: Da Indien einer der preissensibelsten Märkte weltweit ist, gibt es schlicht keinen Raum für Ineffizienz. Der unbedingte Fokus auf Kostenreduktion in allen Bereichen ist die Basis für profitables Wachstum in Indien. Das heißt, Unternehmen müssen bis in den letzten Winkel effizient sein. Entsprechend rügte der Chairman eines führenden indischen Automobilunternehmens seine Mitarbeiter wegen der Unordnung in ihren Schubladen: Sie führe zu unnötigem Suchen und schaffe keinen Mehrwert für Kunden.

Ebenfalls unerlässlich ist Innovation, die sich am Kunden orientiert, denn das Geschäft in Schwellenländern wie Indien wird nicht von Technologie, sondern von den Kunden getrieben. Unternehmen müssen diesen einen echten Nutzen bieten, indem sie Kosten, kundengerechte Funktionalität, Service, Design und weitere Faktoren sorgfältig gegeneinander abwägen. Daraus können dann neue Produkte und Angebote entstehen, wie im Fall eines lokalen Haarfärbemittels, das bei vergleichbarer Leistung weit unter dem Preis internationaler Konkurrenten angeboten werden konnte.

Im pulsierenden Umfeld Indiens ist es manchmal schwer herauszufinden, in welche Chancen man investieren sollte. Hier ist essenziell, genau zu verstehen, wie das eigene Unternehmen Mehrwert für Kunden schaffen kann. Insbesondere muss man vermeiden, zu viel anzufangen und sich in der entstehenden Komplexität zu verzetteln. Indische Unternehmen, die diese Balance von Fokus und Chance beherrschen, sind äußerst erfolgreich. Wie ein indisches Automobilunternehmen, das seine sehr erfolgreichen Aktivitäten im Bereich Scooter einstellte, sich stattdessen auf Motorräder konzentrierte und heute zu den profitabelsten Automobilunternehmen der Welt zählt.

Kreatives Chaos und
klare Unternehmensregeln

Die Organisation an festgelegten Richtlinien, einer klaren Kultur und einer definierten Strategie auszurichten, ist etwas, das wir hauptsächlich mit deutschen Unternehmen in Verbindung bringen. Es ist aber auch in Indien wichtig. Im dortigen sehr volatilen Umfeld ist es entscheidend, dass Mitarbeiter verstehen und verinnerlichen, was die Essenz des Unternehmens ausmacht. Aufgrund des kreativen Chaos, das in Indien oft zu herrschen scheint, ist es unmöglich, für jede Situation Arbeitsanweisungen zu entwerfen.

Daher brauchen Mitarbeiter dieses Verständnis für die Unternehmensaufgabe und -philosophie, denn es ermöglicht ihnen, Entscheidungen zu treffen, die für den Kunden und das Unternehmen richtig sind. Ein Beispiel ist eine indische Fluglinie, die unter anderem offensiv damit wirbt, dass ihre Flugverbindungen immer pünktlich sind. Um dies in der Unternehmens-DNA zu verankern, gilt Pünktlichkeit nicht nur für die Flugzeiten, sondern überall im Unternehmen - bei Meetings, Trainings oder bei der Bezahlung von Zulieferern.

Eine starke, mutige Führungsmannschaft mit einem guten Marktverständnis, die in der Lage ist, Chancen am Schopf zu ergreifen, hilft vielen indischen Unternehmen, erfolgreich zu sein. Zum Beispiel ein indischer Hersteller von Verteidigungstechnik: Um seine Marktposition zu verbessern, kaufte er innerhalb von nur zehn Tagen von einem europäischen Unternehmen eine vollständige Fabrik für die Produktion von Haubitzen. Heute ist er bei Ausschreibungen der indischen Regierung an vorderster Postion vertreten.

Als Fazit lässt sich feststellen: Indiens Größe und sein stetiges, starkes Wachstum machen es zu einem Markt, den globale Unternehmen beherrschen müssen - umso mehr, als sich die Wachstumsdynamik in anderen Teilen der Welt abschwächt. Doch Erfolg und profitables Wachstum in Indien sind kein Zufall, sondern das Resultat guten Managements. Das Werkzeug, um im indischen Umfeld sicher zu navigieren, existiert. Dazu kommt, dass dieses Werkzeug zunehmend auch auf andere Länder übertragbar wird. Denn mit seiner Komplexität und seinem kreativen Chaos ist Indien das perfekte Abbild der Welt, die immer unbeständiger, unsicherer und vielschichtiger wird.

Kurzvita

Wilfried Aulbur, Managing Partner
Indien und Mitglied des Aufsichtsrats von Roland Berger

Aulbur berät vor allem Unternehmen aus den Branchen Automobil, Industrie und Chemie/Energie. Vor seinem Eintritt bei Roland Berger war Aulbur als CEO Indien für einen europäischen Autokonzern tätig. Seine Erfahrungen aus über zwölf Jahren in Indien stellt er im Buch "Riding the Tiger" vor, das im Verlag Penguin Random House erschien.

Bildquellen: Shyamalamuralinath / Shutterstock.com, Roland Berger Holding GmbH