Lebensversicherungen: Bei welchen Neukunden geschröpft werden
Für viele laufende Kapitallebens- und private Rentenpolicen sind hohe Zinsen garantiert. €uro am Sonntag zeigt exklusiv: Neue Kunden leiden zunehmend unter diesen Altlasten.
von Martin Reim und Michaela Heinzen, Euro am Sonntag
Stellen Sie sich vor, in einem Landstrich herrscht eine plötzliche Dürre, das Wasser wird knapp. Zugleich ist das Nass ungleich verteilt: Wer schon länger da ist, dem ist bis zum Lebensende eine genügende Menge garantiert. Neuankömmlinge müssen hingegen einiges von ihrem knappen Wasser an die angestammten Bewohner abgeben.
Diese Landschaftsbeschreibung steht für Kapitallebens- und private Rentenversicherungen klassischer Art. Die Anbieter legen den Großteil des Geldes in festverzinsliche Anlagen an, deren Renditen immer spärlicher fließen. Allerdings sorgen die Versicherer als Verwalter des Landstrichs dafür, dass ein bestimmtes Mindestniveau an Fruchtbarkeit herrscht - in Form des sogenannten Garantiezinses. Er gilt für die gesamte Laufzeit einer Police und beträgt für manche Altverträge vier Prozent pro Jahr. Die Zahl bezieht sich auf den Sparanteil, also auf Einzahlungen minus Kosten.
So weit das Wüstenbild. Um solche Policen mit hohen Garantien auch langfristig bedienen zu können, müssen die Gesellschaften ein zusätzliches Polster namens Zinszusatzreserve anlegen. Das hat ihnen die Finanzaufsicht Bafin auferlegt, und das drückt die Renditen neuer Verträge zusätzlich.
Eine exklusive Untersuchung von €uro am Sonntag zeigt, wie stark sich diese Belastung aktuell auf Neuverträge auswirkt. Ergebnis: Sie leiden immer stärker unter den Verpflichtungen, welche die Anbieter gegenüber langjährigen Versicherten eingegangen sind.
Für Neukunden wenig attraktiv
Ausgangspunkt ist die laufende Verzinsung, also das, was die Neukunden von klassischen Kapitallebens- und privaten Rentenversicherungen für jeweils das kommende Jahr zugewiesen bekommen. Diese Werte sind für 2014 im Vergleich zu 2013 erheblich gesunken (siehe "laufende Verzinsung" in der Tabelle unten). Warum bekommen die betroffenen Kunden weniger Geld? Unter anderem, weil Neukunden bei vielen Anbietern die Verträge alter Kunden subventionieren müssen.
Die €uro-am-Sonntag-Umfrage unter Lebensversicherern, welche die Basis der Tabelle bildet, legt nahe: Der Anteil dieser Subventionen hat in diesem Jahr weiter zugenommen. Das heißt: Selbst wenn die Marktzinsen gleich bleiben sollten, wird es bei den meisten Anbietern immer unattraktiver, eine Lebensversicherung abzuschließen - denn die Altverträge belasten weiterhin das Ergebnis.
Die Ursache für diese Subventionen: In den vergangenen Jahrzehnten lag der sogenannte Garantiezins zeitweise extrem hoch. Wie hoch diese Verpflichtungen im Durchschnitt sind, zeigt sich in der Position "durchschnittliche Garantieverzinsung im Bestand" in der Tabelle. Diese Werte, die von 2012 auf 2013 im Branchenschnitt nur leicht zurückgegangen sind, müssen ausgeschüttet werden, selbst wenn die Versicherer nicht mehr so viel erwirtschaften. Um das in jedem Falle zu gewährleisten, sind die Unternehmen verpflichtet, Mittel in die angesprochene Zinszusatzreserve einzuzahlen. Ein immer größerer Anteil der Kapitalanlagerenditen fließt hier hinein und steht für neue Kunden nicht zur Verfügung.
Wie sehr Altverträge belasten
Zieht man die laufende Verzinsung (also das, was neue Kunden für das jeweils kommende Jahr erhalten) und die Garantiebelastung für das laufende Jahr ab, zeigt sich, wie die neuen Kunden belastet werden. Im Branchenschnitt lag diese Differenz 2012 noch bei 0,42 Prozentpunkten. 2013 schrumpfte sie auf 0,30 Prozentpunkte. Die alten Verträge saugen also immer mehr Mittel ab, die den neuen dann fehlen.
Was ist das Besondere an dieser Auswertung? €uro am Sonntag ist der erste Akteur, der diese Zahlen für 2013 ermittelt und veröffentlicht hat. Die Teilnehmer der Umfrage decken mehr als die Hälfte des deutschen Lebensversicherungsmarkts ab. Für 2012 hatte die Ratingagentur Assekurata eine Erhebung gemacht; diese Zahlen flossen in die Tabelle unter "Garantiebelastung 2012" ein.
Aussagekräftige Zahlen für 2013 gibt es lediglich für 39 der rund 90 deutschen Lebensversicherer. Hier liegen die Grenzen der Auswertung. Manche Unternehmen haben keine Daten geliefert mit der Begründung, dass sie die gefragten Zahlen erst im März oder April ausgewertet haben - beispielsweise die Versicherer der Generali Holding, zu der AachenMünchener, Generali und CosmosDirekt gehören.
Andere Unternehmen lehnten eine Teilnahme ab, weil sie nicht primär auf klassische Policen mit Garantiezins ausgerichtet seien, etwa Zurich Deutscher Herold, Arag und VPV. Von wieder anderen kam trotz mehrfacher Nachfrage gar keine Antwort, beispielsweise von DBV, Helvetia und WWK.
Auch gibt es bei einigen Versicherern Sondersituationen, die die Zahlen zur Garantiebelastung positiv verzerren. So hat Ergo Direkt viele sogenannte Kapitalisierungsprodukte im Bestand, die mit niedrigem Garantiezins ausgestattet sind. Sie sind nominell Lebensversicherungen, funktionieren aber wie Tages- und Festgeld.
Konsequenzen für Versicherte
Anbieter, bei denen sich die Schere zwischen Garantiebelastung und laufender Verzinsung verkleinert hat, haben Vorteile (in der Tabelle sind sie mit einem nach oben gerichteten Pfeil erkennbar). Hier können Neukunden darauf hoffen, dass das Unternehmen auch bei den Gewinnzuweisungen der kommenden Jahre stark ist.
Relativ gut stehen auch solche Versicherer da, die eine Garantiebelastung haben, die unter dem Branchenschnitt von 3,10 Prozent liegt. Hier wird Neukunden relativ wenig Geld abgezogen. Bedenklich ist, wenn die laufende Verzinsung niedriger liegt als die Garantiebelastung. Dann sind die Schatten der Vergangenheit besonders lang.
Gleichwohl sollten Sparer, die eine Lebens- oder Rentenversicherung abschließen wollen, ihre Wahl nicht ausschließlich nach den Zahlen aus der Tabelle treffen. Eine ganze Reihe weiterer Gesichtspunkte sind wichtig, etwa die Finanzkraft, die Kostenquote, die Bestandssicherheit und die Kundenzufriedenheit. All diese Kriterien sind in eine Untersuchung eingeflossen, die das Wirtschaftsmagazin €uro, Schwesterblatt von €uro am Sonntag, in seiner aktuellen Ausgabe veröffentlicht hat.
Wie stark belasten frühere Garantiezusagen (pdf)