Euro am Sonntag-Meinung

Versagen der Politik: Das "Mutti"-Gefühl hat einen hohen Preis

11.12.16 03:00 Uhr

Versagen der Politik: Das "Mutti"-Gefühl hat einen hohen Preis | finanzen.net
Daniel Stelter

Ob Export, Investitionen in Infrastruktur, Flüchtlingskrise oder Eurorettung - die Fehler und Versäumnisse der Regierung Merkel in wichtigen Themen sind eklatant.

von Daniel Stelter, Gastautor von Euro am Sonntag

Elf Jahre nach ihrer Wahl zur Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland hat Angela Merkel verkündet, dass sie im nächsten Jahr noch einmal für eine vierte Amtszeit zur Verfügung stehen wird. Auf viele wirkt die Aussicht auf ein "weiter so" beruhigend. Denn in der Tat scheint unsere Bundeskanzlerin in einer Welt des Umbruchs und der Unsicherheit - Brexit, Erdogan, Putin, Trump, um nur einige Angstszenarien mit Namen zu benennen - die einzige Konstante. Doch der Blick auf die ökonomische Bilanz ihrer langen Regierung lässt befürchten, dass wir dieses Gefühl von Sicherheit einmal teuer bezahlen werden.



Zugegeben: Diese pessimistische Aussage wirkt angesichts vieler vermeint­licher Erfolgsmeldungen erst einmal überraschend. Haben wir doch verglichen zu ihrem Amtsantritt im Jahr 2005 heute mehr Wachstum, weniger Arbeitslose, immer höhere Außenhandelsüberschüsse und die "schwarze Null" im Bundeshaushalt.

Doch schon diese plakativen Erfolgsmeldungen halten einem zweiten Blick nicht stand: Für das bisschen Wachstum sorgen die Notenbanken, für die niedrige Arbeitslosigkeit sind immer noch die Reformen der Agenda 2010 ihres (sozialdemokratischen!) Vorgängers und die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften verantwortlich, und der Titel des Exportweltmeisters ist Augenwischerei. Schließlich bedeutet das im Umkehrschluss, dass wir - allein im Jahr 2015 - überschüssige Ersparnisse von 8,6 Prozent des BIP exportiert haben, damit das Ausland unsere Waren importieren konnte. Damit bauen wir, grundsätzlich zwar richtig, Forderungen gegen das Ausland auf, die wir allerdings leider schlecht anlegen.


Die Stichworte US-Subprime und griechische Staatsanleihen mögen genügen, um zu zeigen, dass es in einer überschuldeten Welt grundsätzlich keine gute Idee ist, Gläubiger zu sein. Allein in der Finanzkrise, schätzt das DIW, haben deutsche Kapitalsammelstellen 400 bis 600 Milliarden Euro verloren - also fast den Überschuss von zwei Jahren. Da wäre es allemal besser, mehr im Inland auszugeben, als dem Ausland Kredit zu gewähren.

Doch das Festhalten an der "Schwarzen Null" führt zu einem weiteren Defizit Merkel’scher Wirtschaftspolitik: dem Raubbau an der Infrastruktur Deutschlands. In den letzten 15 Jahren sind die öffentlichen Investitionen nach einer Auswertung der KfW preisbereinigt nur um 7,8 Prozent gestiegen, im Verhältnis zum BIP sind sie gefallen. In den Kommunen, eigentlich Hauptträger öffentlicher Investitionen, sind sie nach einer Studie des DIW seit 2003 per saldo ­negativ. Dabei braucht gerade ein Industrieland gute Schulen, erstklassige ­Forschung und funktionierende Verkehrssysteme.


Die Industrien, auf denen unsere Erfolge basieren, stammen allesamt aus der Kaiserzeit. Es ist dringend nötig, den weiteren technischen Wandel zu bewältigen. Stichwort: Brennstoffzelle statt Diesel. Der VW-Skandal sollte es dem letzten Skeptiker vor Augen geführt haben: Die deutsche Wirtschaft ist dominiert von der Automobilindustrie, und die steht vor erheblichen Herausforderungen. Technologischer Fortschritt, neue Wettbewerber und verändertes Konsumentenverhalten sind eigentlich die üblichen Treiber stetigen Wandels. Doch wir können nicht mehr sicher sein, dass die technologische Herausforderung auch zu bewältigen ist. Selbstfahrende Autos und der Verlust der Rolle als Statussymbol bei künftigen Generationen können die Industrie mehr als erschüttern. Zeit, neue Branchen zu entwickeln. Doch Unternehmen investieren lieber in den demografisch interessanteren Märkten außerhalb Deutschlands, der Staat konzentriert sich auf Konsum statt Investition.

Der Verfall des Bildungswesens tut ein Weiteres. Es ist weit davon entfernt, die Grundlagen für eine Hochtechnologie-Gesellschaft der Zukunft zu legen. Und mittlerweile muss man nicht einmal in Berlin leben, um zu Recht den Qualitätsverlust öffentlicher Schulen zu beklagen. Dass immer mehr Eltern gezwungen sind, auf Privatschulen auszuweichen, führt die Forderung nach Chancengerechtigkeit ad absurdum.

Die Investitionsschwäche könnte sich schließlich auch als Pferdefuß der Merkel’schen Flüchtlingspolitik erweisen. Zwar wird der Zustrom junger Menschen von Politikern und Ökonomen als Lösung für die ungedeckten Versprechen der alternden Gesellschaft verkauft. Damit Migranten überhaupt einen positiven Beitrag leisten können, sind jedoch erhebliche Investitionen in Sprachschulung und Ausbildung erforderlich, die weit über die derzeit geleistete Soforthilfe hinausgehen. Tätigen wir diese nicht, ist die Gefahr groß, dass es überwiegend eine Zuwanderung in die Sozialsysteme ist.

Ein weiteres Beispiel, wie sehr sich Deutschland in einer Blase der Wohlstandsillusion befindet, ist die Verschleppung der Eurokrise. Es ist bekannt, dass die Schulden von Staaten und Privaten in der Eurozone zu einem guten Teil nicht mehr tragfähig sind. Statt dieses Problem anzugehen und über Schuldenschnitte und eine echte Reform der Eurozone nachzudenken, wurde auf Zeit gespielt. Dabei läuft die Zeit gegen den Gläubiger Deutschland: Die Reformbereitschaft der anderen Länder sinkt, je länger die Krise andauert, und der Berg an faulen Schulden wird immer größer.

Bis jetzt haben deutsche Sparer rund 200 Milliarden Zinsverluste erlitten, weil die EZB mit immer billigerem Geld das Versagen der Politik kompensieren muss. Vorsichtig geschätzt dürfte uns die "Rettung" des Euro mindestens eine weitere Billion Euro kosten. Dabei ist ­angesichts des grassierenden Neo-Na­tionalismus in Europa mehr als fraglich, ob nicht alles, was unter Merkels Credo "Scheitert der Euro, scheitert Europa" unternommen wurde, das Auseinanderdriften erst befördert hat.

Doch am eklatantesten zeigt sich die Reformmüdigkeit der Regierungszeit Merkels an der Generationengerechtigkeit. Anstelle liberaler Ideen, mit denen Angela Merkel noch ihren ersten Wahlkampf bestritten hatte, wurde der Wohlfahrtsstaat zulasten unserer Kinder ausgebaut. Die ungedeckten Verbindlichkeiten des deutschen Staates für künftige Pensions-, Renten- und Gesund- heitsleistungen werden auf über 300 Prozent des BIP geschätzt.

Folgerichtig hatte die rot-grüne Bundesregierung begonnen, das Rentenalter zu erhöhen. Der Rückwärtsgang der Regierung Merkel - Rente mit 63 und Mütterrente - kostet unmittelbar 300 Milliarden Euro. Und gibt ein fatales ­Signal für die drohenden Verteilungskämpfe, wenn die Babyboomer-­Generation in den Ruhestand tritt. Dann werden wir - innenpolitisch - den Preis bezahlen für das gute Gefühl, das uns - außenpolitisch - eine weitere Kanzlerschaft Merkels jetzt vermittelt.

Kurzvita

Daniel Stelter, Gründer des
Thinktanks Beyond the Obvious

Stelter ist Gründer des auf Strategie und ­Makroökonomie spezialisierten Diskussions­forums "Beyond the Obvious". Zuvor war Stelter von 1990 bis 2013 Unternehmens­berater bei der Boston Consulting Group. Heute berät er interna­tionale Unternehmen bei der Vorbereitung auf die Herausforderungen der fortschreitenden Finanzkrise. Zudem ist Stelter erfolgreicher Buchautor. Sein aktueller Titel heißt "Eiszeit in der Weltwirtschaft".

Bildquellen: Sean Gallup/Getty Images, Beyond the Obvious