Untätigkeit ist keine Option: Versicherer am Scheideweg

Die Versicherungswirtschaft in Deutschland mit 529.000 Beschäftigten steht durch die Digitalisierung vor einem tief greifenden Wandel. Was zu tun ist.
von Eckart Eller, Gastautor von €uro am Sonntag
Ob die deutsche Versicherungswirtschaft will oder nicht - der Prozess der Digitalisierung zwingt sie zum Wandel. Die Notwendigkeit dieses Wandels, ja seine Unabwendbarkeit, wird inzwischen zwar von einigen erkannt, doch noch scheuen sich zu viele in der Branche, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Wer das Problem allerdings aussitzen möchte, der dürfte in etwa fünf bis sieben Jahren in ernste Schwierigkeiten geraten. Kurzum: Die Versicherungsbranche steht heute vor der Aufgabe, den Trend der Digitalisierung selbst zu gestalten und die nötigen Schlüsse für ihr Business-Modell und ihren Personalbestand zu ziehen.
Das Hauptproblem hinsichtlich des Personalbestands der Versicherungswirtschaft in Deutschland lässt sich in einem Satz zusammenfassen: zu viel Personal, zu viel Personal an der falschen Stelle - und das auch noch gleichzeitig in verschiedenen Schlüsselstellungen. Denn eine der Herausforderungen von morgen wird es sein, den Kunden durch eine modulare Produktgestaltung eine umfassende Omni-Kanal-Präsenz anzubieten. Das heißt nichts anderes, als dass die Versicherungsunternehmen in der Lage sein müssen, ihren Kunden die Module an die Hand zu geben, mit denen sie über alle Kanäle hinweg ihre passgenaue versicherungstechnische Lösung zusammenstellen können.
Der Kunde wird selbstständiger,
der Vertrieb deshalb komplexer
Schon heute ist absehbar, dass die Bedürfnisse immer individueller und folglich die Lösungen, die die Versicherungen anbieten müssen, immer komplexer werden. Das Problem: Darauf sind die Vertriebsabteilungen der Unternehmen in den meisten Fällen nicht eingestellt. Die Zeit, in der relativ einfache Produkte und Leistungen von Außendienstmitarbeitern in nennenswertem Umfang verkauft werden, geht unweigerlich zu Ende, wenn der Kunde problemlos in der Lage ist, diese einfachen Leistungen digital selbst zu erwerben.
Dies heißt aber nicht, dass der Prozess der Digitalisierung den Menschen überflüssig macht. Im Gegenteil. Dort, wo Bedürfnisse und folglich Lösungen immer individueller und komplexer werden, wird die Bedeutung des Menschen wachsen. Die Herausforderung des Vertriebsmitarbeiters von morgen wird unter anderem auch darin bestehen, durch ein gezieltes Upgrading den Bedarf des Kunden abzudecken. Noch eine weitere Komponente macht den Menschen unverzichtbar: Je individueller die Anforderung, je komplexer folglich die Lösung, desto größer ist das Bedürfnis nach Vertrauen. Denn am Ende sind es Menschen, die Vertrauen schaffen.
Das heißt für die Unternehmen, dass sie vor einem tief greifenden Wandel ihres Personalbestands stehen. Denn für die Aufgaben von morgen wird nur ein kleiner Teil der heute in den Vertriebsabteilungen Beschäftigten gebraucht. Die aber im Vertrieb Verbliebenen müssen geschult werden, um den Aufgaben von morgen entsprechen zu können.
Ähnlich verhält es sich in den IT-Abteilungen der Versicherungswirtschaft. Dort arbeiten etwa 15 Prozent aller Beschäftigten im Innendienst. Ihre Aufgabe besteht bis heute hauptsächlich darin, die IT-Konfigurationen für die versicherungstechnischen Lösungen bereitzuhalten, inklusive der Schadens- und Risikoabschätzung und der allgemeinen administrativen Aufgaben in einem Unternehmen. Doch diese Leistungen können - je nach Bedarf -auch von außen zugeliefert werden, umfassende und personalintensive IT-Abteilungen in den jeweiligen Häusern sind dann nicht mehr nötig.
Entsprechend verhält es sich bei den Beschäftigten in den Abteilungen für Schadensabwicklung: Auch hier wird die Aufgabe selbst nicht entfallen, doch sie wird sich substanziell verändern. Der Aufwand zur Bearbeitung der Schadensregulierung einfacher Versicherungen wird zurückgehen, während jedoch in gleichem Maß die Schadensbearbeitung komplexer Versicherungen immer mehr Ressourcen in Anspruch nehmen wird. Und auch in diesem Fall gilt: Bisher haben sich nur wenige Unternehmen auf diesen Wandel eingestellt. So stehen die Unternehmen vor der Aufgabe, einerseits in erheblichem Umfang Personal abzubauen, gleichzeitig aber ihre verbliebenen Kräfte auf die Aufgaben von morgen vorzubereiten.
So bleibt am Ende festzuhalten: Die Versicherungswirtschaft in Deutschland steht heute am Vorabend vor der größten Herausforderung ihrer jüngeren Vergangenheit. Diese Herausforderung umfasst praktisch alle wesentlichen Bereiche dieser Branche, nämlich den Vertrieb, die Produkte, die IT und die Prozesse.
Über allem aber steht die Notwendigkeit, diesen Prozess selbst zu gestalten. Dies ist zugegebenermaßen keine einfache Aufgabe. Doch es wäre grenzenlose Naivität anzunehmen, dass im Prozess einer immer schneller voranschreitenden Digitalisierung die Grenzen eines Landes oder auch eines Sprachraums das Assekuranzgeschäft wie in der Vergangenheit vor internationaler Konkurrenz schützen werden.
Konkurrenz droht von Start-ups
und ausländischen Anbietern
Immer mehr werden die Kunden in der Lage sein, grenzüberschreitend Kosten und Leistungen miteinander zu vergleichen. Zudem droht der Assekuranz auch Konkurrenz von inländischen Start-ups - spezialisierten Nischenanbietern, die sehr schnell in der Lage sind, auf die besonderen Bedürfnisse ihrer Kundschaft zu reagieren.
So steht die Versicherungswirtschaft in Deutschland heute vor der Aufgabe, die unabwendbaren Konsequenzen zu ziehen, die ihr durch den Prozess der Digitalisierung diktiert werden. Dabei wird die Restrukturierung und Neuausrichtung des Personalbestands auf die Herausforderungen von morgen der Schlüssel für die erfolgreiche Transformation der Assekuranz sein.
Und zwei Fragen werden unbedingt zu beachten sein. Erstens - und das ist für den Erfolg maßgeblich: Es wird nur gemeinsam mit den Arbeitnehmervertretern gehen! Denn herkömmliche
personalbedingte Maßnahmen wie auch Vorruhestandsregelungen dürften kaum ausreichen, den Anforderungen zu begegnen. Es sind nun kreative Lösungen gefragt, die vom Management und von den Arbeitnehmervertretern gemeinsam entwickelt und dann auch zügig umgesetzt werden. Manche Unternehmen warten noch ab, während andere schon die ersten Schritte eingeleitet haben. Doch eines ist klar: Die Zeit läuft und Untätigkeit ist keine Option.
Kurzvita
Eckart Eller,
Gründer und Geschäftsführer der EL-NET Group
Eller ist Ansprechpartner und Berater für die Führungsebene internationaler Unternehmen. Er bringt dabei sowohl seine Erfahrungen aus leitenden Positionen in DAX-Unternehmen als auch ein interkulturelles Verständnis aus längeren Mandaten in Japan, USA, UK und Südostasien mit. Das Unternehmen ist einer der führenden Spezialisten für die Beratung in
Fragen von Personalrestrukturierung und Outplacement.
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