Fehlentwicklungen: Hausaufgaben für die Schuldenländer
Neue EU-Finanztöpfe und -Institutionen, wie sie aktuell gefordert werden, lösen keine nationalen strukturellen Wachstums- und Beschäftigungsprobleme. Was in den Problemländern schiefläuft.
von Thomas Jost, Gastautor von €uro am Sonntag
Der französische Präsident Macron, EU-Kommissionschef Juncker und Politiker von SPD, Grünen und CDU in Deutschland haben in der jüngeren Vergangenheit viele Vorschläge zur "Weiterentwicklung" der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion im Hinblick auf Krisenprävention und Krisenintervention unterbreitet. Sie zielen vor allem ab auf die Schaffung neuer Institutionen (zum Beispiel eines Europäischen Währungsfonds), neuer Posten (zum Beispiel Europäischer Finanzminister) und neuer Finanz-, Umverteilungs- und Hilfstöpfe (zum Beispiel ein "Schlechtwetterfonds") - oder gar, wie SPD-Chef Martin Schulz fordert, auf die "Vereinigten Staaten von Europa".
Woran krankt die Währungsunion, besser gesagt einzelne Länder, wirklich? Kann man durch "mehr Europa" in Brüssel diese Probleme lösen? Oder handelt es sich um nationale strukturelle Probleme, die mehr in einer langfristig verfehlten Wirtschaftspolitik auf der Angebotsseite als durch asymmetrische Nachfrageschocks verursacht wurden?
Das Hauptproblem der südlichen Länder der Eurozone und zum Teil auch Frankreichs ist das langfristig geringe reale Wirtschaftswachstum und die schwache Verfassung des Arbeitsmarkts, die zu keinem realen Aufholprozess in den vergangenen 19 Jahren der Währungsunion, sondern zu einem Rückfall gegenüber dem Norden führten. Italien und Portugal weisen seit zwei Jahrzehnten sehr geringe Wachstumsraten auf. In Spanien und Griechenland war das Wachstum vor Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zwar überdurchschnittlich hoch, es beruhte jedoch auf einer blasenhaften Entwicklung im Immobiliensektor in Spanien und einer Ausweitung des öffentlichen Sektors in Griechenland - jeweils getrieben durch niedrige Realzinsen und Kapitalimporte aus dem Ausland.
In allen genannten Ländern erodierten jedoch die Wettbewerbsfähigkeit und die industrielle Basis. Die strukturelle Arbeitslosigkeit war überdurchschnittlich hoch, und die private und öffentliche Verschuldung konnten nicht unter Kontrolle gehalten werden. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde häufig verletzt.
Wie können die Länder ein höheres langfristiges Wirtschaftswachstum erzielen und damit auch ihre hohen Schuldenquoten senken? Sicher nicht durch eine Politik des dauerhaft billigen Geldes, neue EU-Finanztöpfe und eine Ausweitung der Brüsseler Bürokratie. Langfristiges Wachstum basiert in Industrieländern auf Investitionen in den Kapitalstock und in Humankapital, dem technischen Fortschritt und effizienten nationalen Institutionen. Flexible Arbeitsmärkte, Bekämpfung von Korruption und Schwarzarbeit, leistungsfähige Verwaltungs- und Finanzbehörden sind hier unter anderem zu nennen.
Griechenland widersetzt sich
strukturellen Reformen
Wie stehen die südlichen Länder der
Eurozone in dieser Hinsicht da? Der "World Competitiveness Report" des World Economic Forum (WEF) beschreibt jedes Jahr im Detail die Qualität der langfristigen Bestimmungsfaktoren des Wachstums in einzelnen Ländern. Im aktuellen Ranking des WEF vom September 2017 erreicht Griechenland Platz 87 - hinter Algerien und vor Nepal. Italien, Portugal und Spanien nehmen die Ränge 43, 42 und 34 ein. Frankreich liegt auf Platz 22, Deutschland auf Position 5. In vielen anderen solcher Rankings nehmen die genannten Länder ähnliche Positionen ein.
Das Bildungssystem in Italien, die Last der staatlichen Regulierung in Griechenland oder verkrustete Arbeitsmärkte in Frankreich können nicht von Brüssel aus gesteuert und reformiert werden. Jedes Land muss seine eigenen Hausaufgaben lösen und im nationalen politischen System Reformen durchsetzen, wie es Emmanuel Macron in Frankreich nach jahrelangem Stillstand der Vorgängerregierungen derzeit versucht. Der IWF, dem neben seiner Rolle als Kreditgeber in der Schuldenkrise auch die in der Öffentlichkeit weniger bekannte Aufgabe der Überwachung (Surveillance) seiner Mitgliedsländer zukommt, weist neben dem WEF und anderen privaten Organisationen auch regelmäßig auf strukturelle Defizite und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit in Ländern der Eurozone hin.
In der Schuldenkrise hat der IWF als treibendes und krisenerfahrenes Mitglied der Troika den Programmländern Griechenland und Portugal nicht nur Auflagen hinsichtlich Steuererhöhungen und Kürzungen der Staatsausgaben gemacht, sondern vor allem auf Reformen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und des langfristigen Wachstums gedrungen. Vor allem in Griechenland hat er sich dabei "die Zähne ausgebissen". In kaum einem Land in der langen Geschichte des IWF hat man sich strukturellen Reformen, die sich gegen Monopolmärkte, Korruption und Vetternwirtschaft und für mehr marktwirtschaftliche Effizienz einsetzten, so hartnäckig widersetzt, was sich in der weiterhin schlechten Bewertung des Wirtschaftsstandorts widerspiegelt.
Die Probleme liegen in großen
Ländern wie Frankreich
Klaus Regling, der Chef des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), die Institution, die zu einem Europäischen Währungsfonds entwickelt werden soll, sieht Griechenland dagegen als "Reformweltmeister". Eine Aussage, die mit Daten der OECD zum relativen Reformfortschritt begründet wird. Regling betrachtet Griechenland sogar als "einziges verbliebenes Problem" der Eurozone . Diese Aussage mutet dennoch befremdlich an.
Man könnte auch einen anderen Blickwinkel einnehmen. EU und EZB haben mit ihren Rettungsaktionen zwar gezeigt, dass sie die relativ kleine Volkswirtschaft Griechenland mit einer öffentlichen Verschuldung von rund dem Doppelten der jährlichen Wirtschaftsleistung anhaltend (bis 2050) am Tropf der Gemeinschaft hängen lassen können. Die wahren Probleme, die in Brüssel und auch im ESM nicht gesehen oder heruntergespielt werden, liegen jedoch in den viel größeren Ländern Italien, Spanien und wohl auch Frankreich.
Sofern es diesen Ländern nicht gelingt, vor dem nächsten weltweiten Konjunkturabschwung durch nachhaltige Reformen einen höheren Wachstumspfad zu erreichen und ihre hohe strukturelle Arbeitslosigkeit zu senken, könnte die Eurozone vor einer neuerlichen, schwierigeren Zerreißprobe stehen. Zumal die extrem hohen Schuldenstände der öffentlichen Hand in diesen Ländern und die Geldpolitik der EZB in einer Krise kaum mehr Spielraum für eine expansive Geld- und Fiskalpolitik lassen. Und die in Brüssel aufzubauenden Hilfs- und Transfertöpfe werden für sie mit Sicherheit nicht reichen.
Kurzvita
Thomas Jost,
Professor für Volkswirtschaftslehre
Jost ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fakultät für Wirtschaft und Recht der Hochschule Aschaffenburg (seit 2000) und Mitglied im Aktionskreis Stabiles Geld. Von 1989 bis 2000 war er in der Hauptabteilung Volkswirtschaft im Direktorium der Deutschen Bundesbank tätig und dort auch Mitglied der Forschungsgruppe sowie der Short Term Economic Prospects Group der OECD.
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