Euro am Sonntag

Brexit: Es steht viel auf dem Spiel

19.06.16 15:00 Uhr

Brexit: Es steht viel auf dem Spiel | finanzen.net

Am 23. Juni stimmen die Briten darüber ab, ob ihr Land weiterhin EU-Mitglied sein soll. VDA-Präsident Matthias Wissmann sagt, warum ein Brexit für alle fatal wäre.

von Matthias Wissmann, Gastautor von Euro am Sonntag

Ganz Europa schaut am 23. Juni nach Großbritannien: An diesem Tag stimmen die Briten über ihre Zukunft in oder außerhalb der EU ab. Umfragen zeigen bisher ein Kopf-an-Kopf-Rennen, Londoner Wettbüros hingegen sehen eher größere Chancen für den Verbleib in der EU.

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Keine Frage, die Debatte wird hoch­ emotional geführt. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat es so formuliert: "Die Briten reden über die Folgen eines Brexit, als sei es eine Katastrophe oder das Gegenteil." Viel Psychologie ist im Spiel: Je düsterer Politiker und Experten die politischen und wirtschaftlichen Folgen eines Brexit an die Wand malen, desto mehr wird dies von vielen Briten als "Panikmache" abgetan. Es ist daher höchste Zeit, wieder Sachargumente in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen. Und nüchtern zu prüfen, was ein Brexit-Votum für Großbritannien, die EU und Deutschland bedeuten würde.

Vielmehr müssten zunächst Verhandlungen über den Austritt eingeleitet werden: UK auf der einen Seite des Tisches, der EU-Rat (ohne UK) und die EU-Kommission auf der anderen Seite. Das kann dauern. Nach zwei Jahren könnte Großbritannien auch ohne Verhandlungen aus der EU austreten.
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Doch was dann? Die Vorstellung, dass ein dann notwendiges Freihandelsabkommen mit der EU zügig abgeschlossen werden könnte, wäre naiv. Es droht vielmehr eine lange Phase der Unsicherheit, ein "Jahrzehnt des Schwebezustands", wie es der britische Europa­minister David Lidington ausdrückte.

Besonders bewegt die Briten derzeit die Einwanderung von EU-Bürgern. Doch die Freizügigkeit, die die EU all ihren Bürgern bietet, ist keine Einbahnstraße. Nach einem EU-Austritt könnte beispielsweise auch der junge Mann aus Manchester, der gern nach Berlin ziehen will, das Recht auf freie Wohnsitzwahl auf dem Kontinent verlieren, sollte London Bürger aus anderen EU-Ländern zurückweisen.
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Die britische Volkswirtschaft ist eng mit den anderen EU-Ländern verflochten: 44 Prozent aller Exporte aus UK gehen in die EU, 53 Prozent aller britischen Importe kommen aus der EU. Beispiel Pkw-Markt: Dieser erreichte 2015 mit gut 2,6 Millionen Einheiten ein neues Rekordniveau und ist in hohem Maße auf Importe angewiesen: 86 Prozent der Pkw-Neuzulassungen sind Autos, die nicht in Großbritannien produziert wurden. Ein Großteil davon kommt aus anderen EU-Ländern, knapp ein Drittel aller Neuwagen, 810.000 Einheiten, lief in Deutschland vom Band. Für britische Bürger würde der Autokauf bei einem Brexit sicher nicht preiswerter.

Ohne Großbritannien wäre die EU schwächer

Im vergangenen Jahr produzierten die deutschen Automobilhersteller in Großbritannien rund 216.000 Pkw (plus elf Prozent), im bisherigen Jahresverlauf gibt es ein Plus von neun Prozent. Mit rund 100 Standorten sind deutsche Auto­mobilunternehmen, darunter sehr viele Zulieferer, in Großbritannien vertreten. Seit 2010 hat sich die Zahl der Standorte um 30 Prozent erhöht.

Gleichzeitig ist UK aber auch exportstark: Von den knapp 1,6 Millionen Pkw, die 2015 dort gefertigt wurden, gingen gut 1,2 Millionen, also drei Viertel, in den Export - mehr als die Hälfte davon in die anderen EU-Länder. Sollten auf beiden Seiten des Ärmelkanals wieder Zollschranken hochgezogen werden, würde diese Erfolgsstory sicherlich einen empfindlichen Dämpfer erhalten. Wer will das wirklich?

Die EU wäre ohne Großbritannien schwächer, insbesondere im Dialog mit den USA oder China. Auch innerhalb der EU würden sich die Gewichte verschieben: Die marktwirtschaftlich starke Stimme Londons würde schmerzlich fehlen, Berlin hätte einen noch schwereren Stand gegenüber anderen EU-Ländern, die nach einer "Transfer­union mit Finanzausgleich" rufen. Zudem wäre ein Brexit für Großbritannien fatal: Es stünde isoliert einer EU gegenüber, die allein aufgrund ihrer Größe und der Zahl ihrer Mitgliedsländer ein viel höheres Gewicht aufweist. Und: London könnte nicht mehr mitreden, wenn es um EU-Standards geht. Am 23. Juni steht also in der Tat viel auf dem Spiel. Als überzeugter Europäer vertraue ich da­rauf, dass die Vernunft siegen wird.

zur Person:

Matthias Wissmann, Präsident des
Verbandes der Automobilindustrie

Wissmann absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Politik an den Universitäten Tübingen und Bonn. Seit Juni 2007 ist er Präsident des Verbands der Automobilindustrie (VDA). Von 1993 bis 1998 war er Verkehrs­minister unter Helmut Kohl und von 2002 bis 2007 Vorsitzender des Ausschusses für EU-­Angelegenheiten. Insgesamt war er über 30 Jahre Mitglied des ­Deutschen Bundestags.

Bildquellen: VDA