Vom Umgang mit Risiken

Der Mensch in der Risikofalle

04.05.14 03:00 Uhr

Die Vermutung, die Deutschen seien überversichert, lässt sich statistisch nicht belegen. Warum wir Risiken und deren mögliche Folgen häufig falsch einschätzen.

von Alexander Vollert, Gastautor von Euro am Sonntag

Michael Schumacher stürzt beim Skifahren in einfachem Gelände und bei gemächlichem Tempo. Eine scheinbar völlig harmlose Situation, wie sie jeder Skifahrer kennt. Mit den schwerwiegenden Folgen hätte niemand gerechnet. Schon gar nicht bei einem gut trainierten Autorennfahrer, dessen berufliches Leben aus dem Eingehen extremer Risiken besteht und der dafür bekannt ist, alles zu tun, um diese zu minimieren.

Ein prominentes Beispiel, das zeigt: Unsere subjektive Wahrnehmung von Gefahren hat häufig wenig mit dem tatsächlichen Risiko zu tun. Wir alle haben, wenn wir an bestimmten Stränden schwimmen, mehr oder weniger große Angst, von einem Hai gebissen zu werden. Dabei ist es im Trockenen unter Umständen viel gefährlicher. Zumindest wenn man an die allgemein kolportierten, jährlichen 150 Todesfälle durch herabstürzende Kokosnüsse glaubt. Es gibt pro Jahr nur rund 80 Haiangriffe auf Menschen - davon enden sieben tödlich. Die Wahrscheinlichkeit, am Strand von einer Kokosnuss erschlagen zu werden, wäre also ungefähr 20-mal so groß wie die, durch einen Hai zu Tode zu kommen. Trotzdem jagt uns das Filmplakat vom weißen Hai mehr Angst ein als ein Poster vom Strand mit Kokospalmen.

Die Kokosnussattacke -
ein nicht präsentes Risiko

Unsere Risikowahrnehmung ist durch verschiedene Faktoren verzerrt. Und damit beeinflusst sie unser Handeln in praktisch allen Lebensbereichen. Sie hängt zunächst einmal von der Präsenz eines Risikos ab. Für jemanden, der noch nie von gefährlichen Kokosnussattacken gehört hat, ist dieses Risiko quasi nicht vorhanden.

Der zweite Faktor ist die Art und Größe des Schadens, der entstehen kann, also der Schrecklichkeitsgrad eines Risikos - und zwar der gefühlte, subjektive Schrecklichkeitsgrad. Die Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugabsturzes ist, gemessen nach zurückgelegter Wegstrecke, nach Nutzungsdauer oder nach anderen Parametern, deutlich niedriger als etwa die Wahrscheinlichkeit, in einen schweren Autounfall zu geraten. Trotzdem sorgt das Katastrophenpotenzial eines Flugzeugunglücks für ein deutlich höheres Risikoempfinden.

Der dritte Faktor: die Kontrollierbarkeit von Risiken. Der Mensch hat lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Er schätzt einen Wert in der Zukunft in der Regel geringer als einen, den er in der Gegenwart hat, und entscheidet sich eher für 100 Euro heute als für 110 Euro in zwei Jahren. Das sehen wir als Versicherungsunternehmen bei den ablaufenden Lebensversicherungen: Die Kunden können in der Regel zwischen einer einmaligen Kapitalzahlung und einer lebenslangen Rente wählen. Viele entscheiden sich für die Kapitalzahlung - obwohl die Rentenzahlung ökonomisch gesehen meist sinnvoller wäre. Denn bei einer Rente bekommen sie jeden Monat Geld, egal wie alt sie werden. Die Kapitalzahlung ist, nimmt man denselben Betrag pro Monat an, aber schon nach einer bestimmten Anzahl von Jahren aufgebraucht.

Finanzielle Absicherung als volkswirtschaftlicher Vorteil Und dann spielt bei der Einschätzung von Risiken noch ein vierter Faktor eine große Rolle: Macht man etwas freiwillig oder unfreiwillig? Unfreiwillige Tätigkeiten werden eher als risikobehaftet wahrgenommen als freiwillige. Ein Beispiel: Jemand, der ins Fußballstadion mitgenommen wird, aber eigentlich gar nicht so recht dahin will, schätzt das Risiko, durch einen Tumult im Stadion oder durch eine Panik zu Schaden zu kommen, viel höher ein, als jemand, der sich freut, endlich wieder einmal die Spieler seines Heimvereins anfeuern zu können.

Fehlwahrnehmungen wie diese zu objektivieren und deren Folgen aufzufangen ist die Hauptaufgabe von Versicherungen. Sie haben eine wesentliche Rolle beim Funktionieren einer Volkswirtschaft, denn durch die Übertragung eines Risikos auf das Kollektiv der Versicherten kann der Einzelne zumindest die wirtschaftlichen Folgen einer möglichen Schadenssituation minimieren. Dadurch werden individuelles, unternehmerisches Handeln und investive Tätigkeiten gefördert.

Reife und arbeitsteilige Volkswirtschaften wie Deutschland oder die Benelux-Länder haben daher auch eine hohe Durchdringung an grundlegenden Versicherungen wie Kfz-Versicherungen oder Haftpflichtpolicen. Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund, dass die Zahl der Unfallversicherten rückläufig ist. Denn Risiken in den lebensnahen Bereichen, in denen man gern viel Zeit verbringt und die einem bekannt sind, werden häufig unterschätzt.

Beispielsweise werden etwa 400.000 Menschen in Deutschland jährlich bei Verkehrsunfällen verletzt, aber siebenmal mehr verletzen sich bei Tätigkeiten in Haushalt und Garten. Wir beklagen gut 500 Tote bei Arbeitsunfällen, aber 14-mal mehr sterben jährlich bei Freizeitaktivitäten. Dennoch haben 60 Prozent der Deutschen keine private Unfallversicherung.

Nachholbedarf gibt es auch bei Versicherungen für Kinder. Gefühlt sehen 72 Prozent der Eltern ihre Kinder gut abgesichert, wie eine Studie der Allianz und der Zeitschrift "Eltern" ergab. Aber nicht einmal jeder zweite Befragte (47 Prozent) hat an eine Versicherung speziell fürs Kind gedacht. Beispielsweise hat nur jede achte Familie eine Kinderinvaliditätsversicherung abgeschlossen, die neben den Folgen von Unfällen auch die schwerer Krankheiten wie zum Beispiel Diabetes absichert.

Wo tatsächliche und wo
vermeintliche Gefahren lauern

Als Vater will ich damit nicht den Helikoptereltern das Wort reden, die permanent über den Köpfen ihrer Kinder kreisen und sie ständig vor allen tatsächlichen und vermeintlichen Gefahren zu beschützen versuchen. Aber als Vorstand eines großen Versicherungsunternehmens sehe ich es als meine Aufgabe an, darüber zu informieren, wo reale Risiken in den unterschiedlichen Lebensbereichen liegen, welche Folgen diese haben und wie man sich dagegen am besten absichern kann. Dabei geht es um die objektiv vorhandenen Risiken - und nicht die gefühlten und wahrgenommenen. Und deshalb werden wir bis auf Weiteres auch keine Hai-Biss-Police auf den Markt bringen!

zur Person:

Alexander Vollert, Vorstandschef
der Allianz Versicherungs-AG

Vollert (44) ist promovierter Wirtschaftsingenieur. Er war Partner bei der Unternehmensberatung McKinsey und kam 2009 zur Allianz. Heute ist er als Vorstandsvorsitzender der Allianz Versicherungs-AG zuständig für das Schaden- und Unfallgeschäft der Allianz Deutschland.
Mit rund 9.000 Vertretern betreut die Allianz Deutschland derzeit rund 20 Millionen Kunden. Die von dem Unternehmen verwalteten Kapitalanlagen haben einen Bilanzwert von mehr als 240 Milliarden Euro.