M&G-Anleihe-Chef Leaviss: "Der Inflationsdruck ist noch zu gering"
Fondsmanager Jim Leaviss spricht im Interview über das Wohl und Wehe von Anleihe-Märkten und der Weltwirtschaft - und das Fahrradfahren.
von Andreas Hohenadl, Euro am Sonntag
Jim Leaviss ist fasziniert vom Auf und Ab. Nicht nur an den Börsen, die der Anleihechef für Publikumsfonds bei M & G täglich beobachtet. Nein, auch das Auf und Ab einer Landstraße, die durch bergige Gegenden führt, bereitet ihm Vergnügen. Leaviss ist passionierter Radfahrer - und diese Leidenschaft stellt er sogar in den Dienst einer guten Sache. Für die britische Krebsforschung sammelt er Spenden, indem er sich einer besonderen Herausforderung stellt: 100 steile Anstiege, meist in England, will er bis Ende des Jahres mit dem Fahrrad bezwingen, und so möglichst viele Unterstützer gewinnen. Das bedeutet: im Schnitt drei anstrengende Radtouren pro Woche. Und das alles selbstverständlich in seiner knapp bemessenen Freizeit.
An Disziplin und Durchhaltevermögen mangelt es dem schlanken Mittvierziger freilich nicht. So schaffte er es bereits als Berufseinsteiger, eine Anstellung bei der Bank of England zu bekommen. Danach ging es für ihn zur britischen Fondsgesellschaft M & G, wo er in leitender Funktion tätig ist. Leaviss zählt zu den bekanntesten und renommiertesten Anleihespezialisten Großbritanniens. €uro-am-Sonntag-Lesern ist er durch seine regelmäßige Kolumne "Bonds im Blick" bekannt.
€uro am Sonntag: Herr Leaviss, wie viele der 100 steilen Radanstiege, die Sie sich vorgenommen haben, liegen inzwischen hinter Ihnen?
Jim Leaviss: Vergangenes Wochenende habe ich vier im Süden Englands gemacht, sodass ich jetzt bei 86 bin. 14 muss ich also noch schaffen. Ich hoffe, dass das innerhalb der nächsten vier Wochen gelingen wird, bevor das Wetter in England so richtig schlecht wird.
Ein Kollege von Ihnen, Richard Woolnough, fährt auch gern Rad …
Ja, wir wissen, dass wir uns nur wehtun würden, wenn wir Fußball spielten. Wir sind nicht mehr so schnell wie die Jüngeren, also haben wir uns auf Ausdauersportarten verlegt.
Kommen Ihnen manchmal gute Ideen, wenn Sie mit dem Rad unterwegs sind?
Ja, das ist das Gute am Fahrradfahren: Man zieht allein los und bekommt den Kopf frei. Auf diese Weise denkt man einmal nicht an die tägliche Bürokratie, die der Job so mit sich bringt, sondern entspannt sich und kommt auf interessante Gedanken.
In Ihrer Kurzvita nennen Sie den Astronauten Neil Armstrong als eines Ihrer Vorbilder. Was fasziniert Sie an ihm?
Ich bin generell fasziniert von den frühen Raumfahrtprogrammen - vom Mut der Akteure und den technischen Fortschritten, die damals erzielt wurden. Armstrong war zudem sehr ruhig und kontrolliert, überhaupt kein Selbstdarsteller, und hat große Dinge geleistet.
Sie haben fünf Jahre für die Bank of England gearbeitet, bevor Sie bei M & G anfingen. Wie sah das damals aus?
Ich bin im Jahr 1992 durch ein Graduiertenprogramm zur Bank of England gekommen, die damals viele Leute eingestellt hat. Ich hatte Glück, denn vielleicht fünf Jahre vorher wurden nur Absolventen aus Oxford und Cambridge oder von teuren Privatschulen genommen. Dann wurde der Zugang etwas breiter, und auch Leute von staatlichen Schulen und anderen Universitäten hatten eine Chance. Das Programm jedenfalls war sehr gut, denn man hat die unterschiedlichsten Bereiche der Bank kennengelernt.
Zum Beispiel?
Anfangs hatte ich viel mit Statistik zu tun - ich habe die staatliche Kreditaufnahme und die Geldmenge beobachtet. Denn, Sie werden es nicht glauben, damals machten sich die Leute Sorgen um die Geldmenge. Heute hören Sie keinen Notenbanker mehr über die Geldmenge reden. Das ist komplett aus der Mode. Als ich angefangen habe, fragte man sich, ob die staatliche Verschuldung tragfähig ist und wie es mit der Geldmenge aussieht. Heute ist die staatliche Verschuldung achtmal so hoch und niemand fragt nach der Geldmenge.
Was sollten Anleger im Zusammenhang mit dem Brexit bedenken?
Das ganz große Thema für Bondinvestoren in den vergangenen Jahren ist das Erstarken populistischer Positionen in der Politik - sei es Le Pen in Frankreich, Trump in den USA, die AfD in Deutschland oder die Verfechter des Brexit in England. Das Wirtschaftswachstum der vergangenen 40 Jahre kam überwiegend den Reichen zugute, die Mittelschicht und die ärmeren Schichten sahen dagegen ihr Einkommen kaum steigen. Das führte zu Enttäuschung und Wut, was nun große politische Folgen hat. Die Konsequenzen können eine höhere Schuldenaufnahme der betroffenen Staaten sein oder künftige Handelskriege. Darüber sollten sich Anleger durchaus Gedanken machen.
Welche Fragen sind für Anleiheinvestoren derzeit noch relevant?
Die größte Frage für Bondinvestoren in den entwickelten Volkswirtschaften ist: Wir sehen Wachstum in den meisten der G7-Länder plus Eurozone. Doch ist das ausreichend, um eine Zinsanhebung vonseiten der Fed und der Bank of England und eine Rückführung der Anleihekäufe vonseiten der EZB zu rechtfertigen? Sind wir wirklich schon bereit für einen Zinsanstieg - egal ob in den USA, in Großbritannien oder der Eurozone? Bei den Anlageklassen geht die Überlegung dahin, ob man bereits inflationsgeschützte Papiere kaufen soll. Aber das halte ich für zu früh, denn der Inflationsdruck ist noch zu gering.
Wie sehen Sie europäische Unternehmensanleihen?
Die sind schon etwas teuer. Die Europäische Zentralbank hat Papiere im Wert von etwa 200 Milliarden Euro aufgekauft, um die Renditen zu drücken. Die Chancen in diesem Segment halte ich für nicht mehr so attraktiv.
Wo sehen Sie noch Potenzial?
Anleihen von Banken scheinen mir aussichtsreicher als normale Unternehmensbonds. Bei US-Banken oder europäischen Finanzinstituten gibt es immer noch einen attraktiven Zinsaufschlag von 100 Basispunkten.
Sie haben das Thema steigende Zinsen bereits angesprochen. Ist es berechtigt, sich Sorgen zu machen?
Nicht wirklich. In den USA erwarten die Märkte in diesem Jahr noch einen Zinsschritt der Fed, ursprünglich ging man von zwei aus. 2018 prognostizierten einige Leute sogar vier Zinsschritte der US-Notenbank, aktuell wird eher mit einem gerechnet. Der Grund dafür ist - und das gilt für die vorsichtige Politik der EZB genauso -, dass die Kerninflationsrate auf einem sehr niedrigen Niveau verharrt. Die USA haben jetzt fünf Monate in Folge gesehen, in denen die Inflation niedriger als erwartet war und Monat für Monat zurückgegangen ist. Darüber ist die Fed sehr besorgt, und die Markteilnehmer haben allen Grund, beunruhigt zu sein.
Weshalb?
Wir registrieren ja durchaus, dass der Arbeitsmarkt enger wird, sowohl in den USA als auch in Europa, speziell in Deutschland. Und wir haben bisher keine großen Lohnsteigerungen gesehen. In den USA steigen die Löhne um 2,35 Prozent. Das ist ziemlich wenig angesichts einer Arbeitslosenrate von vier Prozent. Ich denke, das ist das fehlende Puzzlestück. Und ich glaube, wenn wir Lohnsteigerungen von drei oder 3,5 Prozent sehen, werden auch die Zinsen steigen.
Inflation ist aktuell kein Problem, aber könnte sie in den kommenden Jahren zu einem werden?
Ich glaube nicht, dass die Zentralbanken viel gegen Inflation unternehmen müssen. Die Teuerungsraten sind kontinuierlich gesunken. Aber das hat mehr mit der alternden Bevölkerung und der steigenden Bedeutung des Internets zu tun. So sind Preisvergleiche heutzutage viel einfacher. Und natürlich spielt die Globalisierung eine wichtige Rolle. China ist 2002 der Welthandelsorganisation beigetreten und exportiert seitdem billige Güter in alle Ecken der Welt. All das hat einen wesentlich größeren Einfluss auf die Preisentwicklung als das, was die Zentralbanken unternommen haben.
Kann dieser Trend wieder drehen?
Was die Technologie betrifft, bin ich überzeugt, dass dies nicht der Fall sein wird. Schauen Sie nur in die USA: Dort hat der Internethändler Amazon die Bio-Supermarktkette Whole Foods übernommen. Und was passierte kurze Zeit danach? Whole Foods hat bei der Hälfte seiner Waren die Preise deutlich reduziert. Sie sehen also, was passiert, wenn ein Internetgigant in den Lebensmittelhandel einsteigt. Was bedeutet es erst, wenn dies auch im Bereich Automobile geschieht? Technologie wird auch künftig einen Abwärtsdruck auf die Preise ausüben.
Was könnte zu Preissteigerungen führen?
Wie es mit der Globalisierung weitergehen wird, ist die spannendere Frage. Denn da gibt es US-Präsident Trump mit seinem protektionistischen Kurs. Da ist Großbritannien, das die EU verlässt, sodass diese Freihandelszone schrumpft. Und da sind weitere Handelsabkommen, die infrage gestellt werden. Angesichts der populistischen Bewegungen sehen wir eine Gefahr für den freien Handel. Das würde im Endeffekt wieder steigende Preise bedeuten. Doch ich glaube nicht, dass dies in größerem Umfang passieren wird. Ich denke, dass die Inflation in den kommenden Jahren in etwa auf dem aktuellen Niveau verharren wird.
Im Dezember müssen die USA ihre Schuldenobergrenze erneut anheben. Erwarten Sie Turbulenzen?
Reibungslos verläuft das nie. Die Hurrikans haben den US-Kongress zwar dazu bewogen, das Problem mithilfe einer Zwischenfinanzierung bis Dezember zu verschieben. Aber dann kommt es wieder auf den Tisch. Der US-Kongress wird derzeit von Republikanern dominiert, von daher glaube ich, dass die Schuldengrenze letztlich erhöht wird.
Wo sehen Sie dann das Problem?
Irgendwann wird eine Zeit kommen, in der die Ratingagenturen sagen: Genug ist genug. Im September hatten kurzfristige US-Staatsanleihen, die am Tag nach Erreichen der Schuldenobergrenze fällig wurden, eine um 20 Basispunkte höhere Rendite als Papiere, die einen Tag vorher fällig wurden. Das zeigt, dass die Märkte sehr wohl das Szenario einer Bonitätsabstufung einpreisen. Wir haben allen Grund, nervös zu sein.
Ein Blick auf Währungen: Der US-Dollar hat gegenüber dem Euro deutlich an Wert verloren. Wird sich dieser Trend fortsetzen oder sehen wir demnächst eine Umkehr?
Mittlerweile wird der Dollar in vielen Portfolios untergewichtet. Und das in einem Ausmaß, dass es allmählich wieder reizvoll wird, auf eine Gegenbewegung zu setzen. Ich denke, der Wendepunkt ist nahe.
Für wie attraktiv halten Sie Anleihen aus den Schwellenländern?
Fundamental spricht derzeit zwar vieles für die Schwellenländer. Zudem bieten die Papiere eine positive reale Verzinsung im Gegensatz zu vielen anderen Papieren weltweit.
Aber?
Eine Sache beunruhigt mich: In welchem Umfang ausländische Investoren Anleihen aus Schwellenländern halten. Beispiel Mexiko: Rund 70 Prozent der mexikanischen Bonds sind in den Händen ausländischer Anleger. Das bringt ein hohes Maß an Instabilität mit sich. Wenn etwa US-Investoren beschließen, ihre Emerging-Market-Bonds zu verkaufen, könnten sie das alle zur selben Zeit tun. Und mithilfe von ETFs geht das auch ziemlich schnell. Diese Verkäufe finden dann in relativ kleinen und nicht sehr liquiden Märkten statt, was zu Verwerfungen führen kann. Das beunruhigt mich.
Vita:
Volkswirt und Anleiheprofi
Jim Leaviss arbeitet seit 1997 für die britische Fondsgesellschaft M & G. Er ist dort Leiter des Bereichs Retail Fixed Interest und verantwortet damit die Anlageentscheidungen in den auf Anleihen ausgerichteten Publikumsfonds des Hauses. Vor seiner Tätigkeit bei M & G war Leaviss fünf Jahre lang bei der Bank of England als Geldmarkthändler und Volkswirt beschäftigt.
Fonds:
Fokus auf
Makrotrends
Leaviss managt bei M & G unter anderem den Global Macro Bond Fund (ISIN: GB 00B 78P H71 8), der mit einem Volumen von knapp zwei Milliarden Euro zu den Schwergewichten zählt. Mit dem flexiblen globalen Rentenfonds kann Leaviss in alle Arten von Zinspapieren investieren. Seine Anlagestrategie richtet sich an seinen makroökonomischen Erwartungen aus.
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Bildquellen: M&G