Euro am Sonntag-Titel

Die neue Euphorie an Europas Börsen

19.10.09 06:00 Uhr

Viele Investoren hatten Europa als Anlageziel abgeschrieben. Doch nun entdecken immer mehr von ihnen den Kontinent wieder. Das könnte den Börsen im globalen Vergleich überdurchschnittliche Renditen bescheren.

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von Carsten Lootze, €uro am Sonntag

Europa steigt wie der Phönix aus der Asche“, sagt Aktienstratege Gary Baker von der Bank of America Merrill Lynch. Noch vor einem Jahr wollte kaum ein Anle­ger etwas von Europa wissen. Um keine andere Region auf der Welt machten die Investoren einen größeren Bogen, ergab eine Umfra­ge von Merrill Lynch im November 2008. Selbst Eu­ropa-Aktienfondsmanagern fiel es damals schwer, an ihr Anlage­universum zu glauben.

Ein Jahr später sieht es ganz anders aus: Europa zählt bei Investoren zu den attraktivsten Aktienmärkten der Welt. Eine Umfrage der Bank of America Merrill Lynch von Anfang Oktober hat ergeben, dass Fondsmanager nach den Schwellenländern keine andere Region so stark übergewichten wollen.

Für die Europa-Euphorie gibt es drei Hauptgründe: Die Aktienbewertungen sind im internationalen Vergleich sehr günstig, europäische Unternehmen sind besonders zyklisch und profitieren daher stark vom Konjunkturaufschwung, und die Börsen bieten nach den vergleichsweise starken Verlu­s­ten hohes Aufholpotenzial. Doch die Chancen und Risiken sind innerhalb des Kontinents sehr unterschiedlich. €uro am Sonntag zeigt sie auf.

„Von der Paria zur Präferenz“ – oder anders gesagt: vom Außenseiter zum Spitzenreiter — so fasst Aktienstratege Baker den Sinneswandel der Anleger gegenüber Europa zusammen. Die jüngste monatliche Umfrage der Bank of America Merrill Lynch unter 229 globalen Aktienfondsmanagern zeigt: Im Oktober lag der Anteil derjenigen, die europäische Aktien übergewichtet hatten, elf Prozentpunkte über dem Anteil derer, die entsprechende Werte untergewichtet haben. So positiv hatten die Profis Europa zuletzt im Februar 2008 eingeschätzt. Auf Sicht der kommenden zwölf Monate ist der Anteil derer, die europäische Aktien übergewichten wollen, um neun Prozentpunkte höher gegenüber den Pessimisten. Im Juli überwog der Anteil derer, die Untergewichte planten, noch um 30 Prozent.

Zu denen, welche die alte Welt neu entdeckt haben, gehört Chris­-toph Riniker. „Seit etwa einem Monat raten wir, den Europa-Anteil in Aktienportfolios überzugewichten“, sagt der Aktienstratege der Schweizer Bank Julius Bär. Im weltweiten Vergleich hält er Europa derzeit für die attraktivste Anlageregion. Dem Schweizer Bankhaus könnte man noch eine gewisse Vorliebe für den heimischen Kontinent unterstellen. Doch selbst Robert Buckland, Chefstratege der US-Bank Citigroup, schaut derzeit lieber über den Atlantik und sagt: „Wir bevorzugen die europäischen Aktienmärkte.“

Auch bei den Fondsgesellschaften ING Investment Management, Fortis Investments, Threadneedle und Raiffeisen Capital Management ist Europa unter den entwickelten Märkten momentan die beliebteste Anlageregion, ebenso bei den Banken Credit Suisse, BNP Paribas und Erste Group. „Unser Übergewicht gegenüber dem MSCI Welt beträgt aktuell vier Prozentpunkte“, sagt Anja Hochberg. Sie leitet die Investmentstrategie bei der Credit Suisse Asset Management. „Vor zwei Monaten waren wir noch einen Prozentpunkt untergewichtet.“

Günstige Aktienbewertungen führen die meisten Profis als Erstes an, wenn sie nach den Gründen für ihre neue Europa-Vorliebe gefragt werden. Die Umfrage der Bank of America Merrill Lynch zeigt, dass keine andere Region weltweit bei so vielen Investoren als unterbewertet gilt wie Europa.

Egal auf welche der gängigen Kennziffern Anleger schauen, die Zahlen geben ihnen recht: Das Kurs/Gewinn-Verhältnis (KGV) auf Basis des vergangenen Geschäftsjahres für den MSCI Europa beträgt aktuell 44, der US-amerikanische S & P 500 ist mit einem Wert von 50 teurer. Auch anhand des Kurs/Buchwert-Verhältnisses (KBV) ist der US-Markt teurer: Das KBV Europa-Index liegt dort bei 2,1, das des S & P 500 bei 2,4. Zudem macht die höhere Dividendenrendite europäische Aktien attraktiver als Papiere aus den USA oder Japan: Die zuletzt gezahlte Dividende pro Aktie, dividiert durch den aktuellen Kurs der Aktie, beträgt beim MSCI Europe aktuell 3,4 Prozent. Beim S & P 500 sind es nur 2,3 Prozent und beim japanischen Nikkei 225 rund 1,5 Prozent.

Zweitens hängt der europäische Aktienmarkt stärker von Konjunkturverläufen ab als sein US-Pendant. Das liegt daran, dass Unternehmen aus zyklischen Branchen wie Indu­s­trie, Grundstoffe und Energie am europäischen Markt einen größeren Anteil haben als am US-Pendant. „Wegen ihrer zyklischen Ausrichtung und Exportabhängigkeit sollten europäische Unternehmen im internationalen Vergleich besonders stark vom Konjunkturaufschwung profitieren“, sagt Herbert Perus. „Das sollte sich auch in den Aktienkursen niederschlagen“, fährt der globale Aktienchef der österreichischen Fondsgesellschaft Raiffeisen Capital Management fort. Zwar ist der japanische Markt auch sehr zyklisch und die Bewertungen erscheinen dort ebenfalls niedrig. Hochberg: „Aber Japan beginnt meist erst in der zweiten Hälfte der wirtschaftlichen Erholung, sich besser als andere Märkte zu entwickeln.“ Zudem verweisen sie und Perus darauf, dass die langfristigen Aussichten für Japan ungünstiger seien als in Europa – weil die Folgen der Wirtschaftskrise in den 90er-Jahren wegen der noch schneller alternden Bevölkerung und der schlechten Verbraucherstimmung bis heute nicht verwunden seien.

Wegen seiner zyklischeren Ausrichtung hat der europäische Aktienmarkt im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise stärker an Wert verloren als die in den USA und Japan. Der europäische Dow Jones Stoxx 600 büßte 2008 auf Eurobasis rund 43 Prozent an Wert ein, der japanische Nikkei 225 in Yen 41 Prozent. Beim S & P 500 aus den USA waren es in US-Dollar 37 Prozent. Perus: „Dadurch bietet der europäische Markt nun das größere Aufholpotenzial.“

Kritiker halten dagegen. Sie verweisen unter anderem auf die Wachs­­­­tumsprognosen zu den Bruttoinlandsprodukten: Für 2010 gehen die Volkswirte fast einstimmig davon aus, dass Europa den USA und Japan hinterherhinken wird. Das gilt auch für den Europa-Optimisten Riniker: Der Prognose seiner Bank zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt der Eurozone 2010 nur um 0,6 Prozent wachsen, Japans hingegen um 0,8 Prozent und das der USA um 0,9 Prozent. Wie passt das damit zusammen, dass Riniker und andere Investmentprofis Europa für die attraktivere Anlageregion halten?

„Die Jahresbetrachtung der Prog­nosen ist irreführend“, sagt Riniker. „Ein Blick auf die einzelnen Quartale zeigt, dass die USA und Japan ihren Vorsprung gegenüber Europa im dritten Quartal 2010 verlieren sollten.“ Generell nutzen Inve­s­toren Prog­nosen zum Wirtschaftswachstum zwar als Anhaltspunkte, jedoch sind letztlich meist Unternehmensdaten für ihre Anlageentscheidungen ausschlaggebend. „Gerade in der aktuellen Situation sagen volkswirtschaftliche Prognosen nicht viel über die Struktur der Unternehmensgewinne aus“, sagt Stefan Schilbe, Chefvolkswirt bei HSBC Trinkaus. „Beispielsweise könnten von den Konjunkturprogrammen nur wenige Branchen profitieren.“

Anja Hochberg liefert einen weiteren Erklärungsansatz dafür, warum die geringeren Wachstums­prognosen für Europa Investoren nicht abhalten sollten, auf dem Kontinent zu investieren: „Die Unternehmen dort sind sehr international ausgerichtet, daher sind die konjunkturellen Daten der Absatzmärkte von höherer Bedeutung.“ Ein börsennotiertes europäisches Unternehmen erwirtschafte rund 20 Prozent seines Umsatzes in den wach­stumsstarken Schwellenländern. Bei US-Unternehmen seien es nur 15 Prozent.

Neben den niedrigeren Wach­s­tumsprognosen verweisen Europa-Kritiker auf die jüngsten Gewinnrevisionen. Während Analysten ihre Gewinnprognosen für europäische Unternehmen in den vergangenen Wochen nur zögerlich angehoben haben, waren sie anderswo deutlich entschlossener. Zum Beispiel ist der durchschnittliche geschätzte Gewinn pro Aktie im kommenden Geschäftsjahr für den S & P 500 um ein Prozent gestiegen. Für Werte aus dem Stoxx 600 erwarten die Analysten nur 0,4 Prozent mehr Gewinn.

Hochberg und Schilbe erklären die stärkeren Gewinnrevisionen in den USA damit, dass Unternehmen dort wegen der rechtlichen Bedingungen schneller Arbeitsplätze abbauen konnten, was sich sofort in besseren Gewinnaussichten niederschlägt. Hochberg: „Mit den langsam greifenden Sparmaßnahmen bei europäischen Unternehmen haben Analysten viel Nachholpotenzial, um ihre Gewinnerwartungen dort anzuheben. Wir gehen davon aus, dass dies zu einer Überrendite bei europäischen Aktien führen wird.“ Auch Gary Baker von Bank of America Merrill Lynch erwartet, dass sich europäische Aktien in den kommenden Monaten im weltweiten Vergleich besonders gut entwickeln werden. „So ein starker Stimmungsumschwung wie derzeit in Bezug auf Europa hat in der Vergangenheit tendenziell auf eine Outperformance in den darauf folgenden Monaten hingewiesen.“

Weitere 25 Prozent Wertzuwachs hält Fondsmanager Nigel Bolton von Blackrock in den kommenden sechs Monaten für möglich. Herbert Perus von Raiffaisen Capital Management geht noch weiter: „30 bis 40 Prozent Plus sind bei europäischen Aktien noch drin, erst dann wären die durchschnittlichen historischen Bewertungsstände erreicht.“ Deutlich zurückhaltender ist Christoph Riniker von Julius Bär, der in den kommenden zwölf Monaten mit fünf bis sechs Prozent Rendite bei europäischen Aktien rechnet. Allerdings geht er wie die anderen Experten von kurzfristigen Kursrückschlägen um fünf bis zehn Prozent aus. Wer dann einsteigt, kann demnach bis zu 15 Prozent herausholen.

Doch die regionalen Unterschiede innerhalb Europas sind groß. Seit Anfang 2009 hat beispielsweise der russische Leitindex RTS in der Landeswährung Rubel rund 125 Prozent Wertzuwachs erzielt. Dagegen liegt der slowakische Markt 16 Prozent im Minus. Die Aussichten für die kommenden Monate sind ebenso unterschiedlich. Generell sollte die neue Europa-Euphorie vor allem großen Märkten zugutekommen. Denn wenn große Investoren ihre Europa-Anteile spürbar erhöhen wollen, sind die kleinen Märkte dafür zu eng.

Der deutsche Aktienmarkt gilt innerhalb Europas als der größte Favorit. „Wegen seiner Exportlastigkeit wird dieser Markt besonders vom Konjunkturaufschwung profitieren“, sagt Riniker. „Zudem hat es dort keine Immobilienblase gegeben.“

Auch Nordeuropa erscheint attraktiv. Einerseits haben die Börsen dort 2008 besonders stark gelitten — in Norwegen wegen des Einbruchs beim Ölpreis, in Schweden wegen des starken Osteuropa-Geschäfts der Finanzbranche. Dadurch ergibt sich nun ein hohes Aufwärtspotenzial. Norwegische Aktien sollten weiterhin von einem steigenden Ölpreis profitieren, die schwedische Wirtschaft ist exportstark.

Für Großbritannien und Irland kann sich derzeit kaum ein Investor erwärmen. „Der europäische Enthusiasmus erreicht Großbritannien nicht“, sagt Gary Baker. „Die Portfoliostrategen haben ihre Untergewichte dort im Oktober weiter heruntergefahren.“ Die gängige Meinung: Ebenso wie Irland werde das Land noch jahrelang unter der geplatzten Immobilienblase leiden. Dennoch sollten britische Energieunternehmen wie BHP Billiton, British Petrol, Rio Tinto Royal Dutch Shell weiterhin vom globalen Konjunkturaufschwung profitieren.

Auch in Bezug auf Südeuropa sind die Experten vorsichtig. Die geplatzte Immobilienblase in Spanien, politische Konflikte und eine enorme Staatsverschuldung in Italien, kaum wettbewerbsfähige Unternehmen in Griechenland — das alles bietet wenig Anlass für eine Börsenrally.

Und Osteuropa? In diesem Jahr gehören Russland, Lettland und Estland bislang zu den ertragreichsten Börsenplätzen des Kontinents. Doch was die Zukunft angeht, so driften die Meinungen der Profis sehr stark auseinander. Für Herbert Perus ist Osteuropa die attraktivste Anlageregion der Welt. Volkswirt Schilbe warnt dagegen: „Hohe Leistungsbilanzdefizite, geplatzte Immobilienblasen und hohe Kredite in Fremdwährungen bergen Risiken.“ Selbst Osteuropa-Fondsmanager sind teils skeptisch.

Auch bei der Branchenauswahl sind die Investoren uneins. „Unsere Maßzahl für die Sektorüberzeugung ist in diesem Monat erneut gefallen“, sagt Gary Baker mit Blick auf seine Fondsmanagerumfrage. Jedoch sei eine anhaltende Rotation weg von defensiven Branchen hin zu zyklischen Bereichen zu beobachten. So sind die Fondsmanager erstmals seit etwa zwei Jahren in Gesundheitswerten untergewichtet und in Banken übergewichtet. Die stärksten Übergewichte gibt es der Umfrage zufolge in den Bereichen Technologie, Versicherungen, Telekom, Industrie und Energie. Zurückhaltend sind die Profis bei Immobilienaktien, Lebensmittelherstellern, Versorgern und Chemieunternehmen.

Unabhängig von den Branchen gilt: Wenn sich große Investoren stärker in Europa engagieren wollen, werden sie vorrangig Standardwerte kaufen. „Daher werden sich Large Caps in den kommenden Monaten besser entwickeln als Small und Mid Caps“, sagt Perus. So groß, dass die Stimmung bald wieder kippen könnte, ist die Europa-Euphorie derzeit übrigens noch nicht. Einsteigen lohnt sich also.

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Carmignac Grande Europe: Ganz Europa im Portfolio

Der Carmignac Grande Europe gehört zu den wenigen Europa-Aktienfonds, die sowohl in die etablierten als auch in Schwellenmärkte des Kontinents investieren. Das zahlte sich bislang aus: In den vergangenen fünf Jahren erzielten die Manager David Loggia und Jordan Cvetanovski insgesamt 34 Prozent Wertzuwachs. Damit gehört der Fonds zu den besten unter den 232 Europa-Aktienfonds. Derzeit sind rund 90 Prozent in Industriestaaten und zehn Prozent in Schwellenländer inve­stiert.

Nordea Nordic Equity Fund: Spezieller Skandinavien-Fonds

Skandinavien gehört bei Investoren momentan zu den bevorzugten europäischen Regionen. Der Nordea Nordic Equity Fund investiert in Unternehmen aus Schweden, Finnland, Norwegen und Dänemark. Dabei setzt Manager Tommi Saukkoriipi aktuell stark auf Indu­strie- und Finanzwerte, ist also zyklisch aufgestellt. Zu den Toppositionen gehören der Handyhersteller Nokia und die Bekleidungskette H & M. In den vergangenen fünf Jahren legte der Fonds um insgesamt 27 Prozent zu.

Comstage ETF Dax TR: Der ganze DAX in einem Fonds

Der zyklische deutsche Markt ist bei Investoren derzeit besonders gefragt. Um auf deutsche Standardwerte zu setzen, bieten sich börsennotierte Indexfonds (ETF) an. Denn es gelingt ohnehin nur wenigen Fondsmanagern, den DAX dauerhaft zu schlagen. Sehr kostengünstig ist der Comstage ETF Dax TR. Der Fonds hält die DAX-Werte nicht tatsächlich im Portfolio, sondern tauscht sich deren Wertentwicklung über Swap-Geschäfte ein.

Zertifikate: Europa-Index im Paket

Anleger, die breit in Europa investieren wollen, haben auch mit einem Indexzertifikat auf den Stoxx-600-Index eine gute Möglichkeit. Diese sehr kostengünstigen Produkte bilden die Wertentwicklung eines Index eins zu eins ab. Der Stoxx 600 umfasst, anders als der Euro Stoxx 50, auch Firmen jenseits der Eurozone, also auch aus Großbritannien oder der Schweiz. In dem Börsenbarometer sind 600 Firmen aus 18 Ländern enthalten. Das Zertifikat von der Commerzbank (ISIN: EU 000 965 821 0) ist währungsgesichert und hat keine Laufzeitbeschränkung. Anleger, die mehr auf Nummer sicher gehen wollen, sollten auf Bonuszertifkate auf den Euro Stoxx 50 zurückgreifen. Diese Produkte bieten Mindestrenditen, solange der Index oberhalb einer festgelegten Barriere bleibt. Die Auswahl ist riesig, finanzen.net listet über 2000 auf.