Euro am Sonntag-Interview

Anleihe-Experte Jim Leaviss: "Die Pandemie wird uns noch weit ins nächste Jahr begleiten"

08.11.20 08:00 Uhr

Anleihe-Experte Jim Leaviss: "Die Pandemie wird uns noch weit ins nächste Jahr begleiten" | finanzen.net
Jim Leaviss

Der britische Anleihe-Spezialist Jim Leaviss spricht mit €uro am Sonntag über Value-Fallen, Argumente für hohe Neuverschuldung und das Problem, Inflation zu erzeugen.

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von Andreas Hohenadl, Euro am Sonntag

Sorry", sagt Jim Leaviss. Er müsse mal schnell an die Haustür. Ein paar Gesprächsfetzen sind im Hintergrund zu hören, nach einer halben Minute ist Leaviss wieder am Hörer. Homeoffice ist angesagt - auch beim Chefanlagestrategen Public Fixed Income der britischen Fondsgesellschaft M & G. Wie die Corona- Pandemie Arbeitswelt, Wirtschaft und Märkte verändert, darüber spricht der erfahrene Anleiheprofi im Interview.

€uro am Sonntag: Herr Leaviss, die zweite Welle der Pandemie scheint gerade Schwung aufzunehmen. Was heißt das für einen professionellen Anleiheinvestor wie Sie?

Jim Leaviss: Ich denke, dass sich alle Investoren allmählich von der Idee einer V-förmigen wirtschaftlichen Erholung verabschieden. Bei meinen Investments jedenfalls ist der Leitgedanke, dass uns die Pandemie noch weit ins nächste Jahr begleiten wird. Je länger das alles dauert, desto gravierender werden aber auch die Folgen sein.

Inwiefern?

Sobald einmal jemand nicht mehr auf der Gehaltsliste eines Unternehmens steht, wird es für ihn sehr schwierig, wieder in die Arbeitswelt zurückzukehren. Zugleich wird es für Unternehmen, die überlebt haben, zunehmend attraktiver, umzustrukturieren. Und das in einer Weise, an die sie vorher nicht gedacht haben, als es noch darum ging, Mitarbeiter zu halten. Unternehmen werden sich fragen: Brauche ich noch eine so große Belegschaft? Benötige ich ein Bürogebäude mitten in London? Oder reichen nicht auch ein Vorort und Mitarbeiter im Homeoffice? Die Antworten mögen unterschiedlich ausfallen, aber es könnte Veränderungen geben.

Noch sind wir ein Stück davon entfernt.

Ja, und ich denke, dass die Politik in dieser Hinsicht viel richtig gemacht hat. Mit Instrumenten wie der Kurzarbeit hat man weltweit große Entlassungswellen und eine Zunahme der strukturellen Arbeitslosigkeit verhindert. Darin sehe ich weiterhin die größte Herausforderung: dass wir der Wirtschaft nicht dauerhaften Schaden zufügen, indem wir die Arbeitslosenrate substanziell ansteigen lassen.

Verhindern wir damit nicht einen nötigen Wandel?

Dieser Wandel findet schon statt. Wir haben hier im Zentrum Londons eine große Kette mit Sandwichläden. In der Vergangenheit haben sie jeden kleineren Laden aufgekauft. Jetzt sind deren Filialen geschlossen. Wer weiß denn auch, wie viele von uns wieder Vollzeit in ihren Büros arbeiten gehen werden, wenn die Pandemie vorüber ist. Als Investor müssen wir jetzt schon aufpassen, dass wir nicht in eine Value-Falle tappen.

Wie meinen Sie das?

Auch wenn manche Bewertung günstig erscheint, bei einigen Bereichen der Wirtschaft ist die Erholung fraglich. Ich denke an Gewerbeimmobilien, den Reisesektor oder den Gaststättenbereich. Dort werden die negativen Folgen der Pandemie sicher noch lange zu spüren sein.

Auch die Staatsverschuldung wird uns noch länger beschäftigen. Ist dieses Ausmaß an Schulden gerechtfertigt?

In diesem Punkt hat sich die akademische Auffassung gewandelt. Der Internationale Währungsfonds befürwortet in einer aktuellen Studie sogar stärkere Staatsausgaben. Denn diese würden in Zeiten schwacher Wirtschaftsentwicklung große Hebelwirkung entfalten. Man geht davon aus, dass öffentliche Ausgaben in Höhe von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts ungefähr drei Prozent an Wirtschaftswachstum auslösen. In normalen Zeiten wäre es ein halbes Prozent.

Trotzdem sorgen sich viele wegen der hohen Staatsschulden?

Verständlich, denn eine gewisse Gefahr geht davon aus. Aus Erfahrung weiß ich: Wichtig ist am Ende nicht die akademische Theorie, sondern die Glaubwürdigkeit. Sie können sich Geld ausleihen, so viel Sie wollen, solange Sie glaubwürdig sind. Fängt man an, Ihnen zu misstrauen, wird’s schnell unangenehm. Italien musste vor ein paar Jahren diese Erfahrung machen, als die Renditen der Staatsanleihen in die Höhe schossen. Das passierte auch im März dieses Jahres.

Schulden könnten künftig weginflationiert werden, meinen einige. Doch wird es überhaupt zu höherer Inflation kommen?

Ich halte das für eher unwahrscheinlich. Denn der technologische Fortschritt verhindert, dass die Preise deutlich anziehen. Zu diesem Fortschritt zählt auch die Erkenntnis, dass man viele Arbeiten von zu Hause aus erledigen kann. Unternehmen werden sich fragen, warum sie teure Angestellte in hochpreisigen Metropolen bezahlen müssen. Ich kann mir vorstellen, dass sie mehr Leute einstellen, die in Indien oder Vietnam leben und fachlich sowie in Fremdsprachen versiert sind. Das wird disinflationären Druck auf die Löhne ausüben.

Was erwarten Sie vom Ausgang der US-Präsidentschaftswahl?

Sollte Joe Biden gewinnen und die Demokraten beide Kammern des Kongresses einnehmen - danach sieht es im Moment aus -, ist das nicht zwangsläufig von Nachteil für die US- Wirtschaft. Im Gegenteil. Laut einer aktuellen Goldman-Sachs- Studie werden Bidens Pläne zur Steigerung der öffentlichen Ausgaben einen größeren Effekt auf das Wirtschaftswachstum haben als Trumps Pläne. Denn Donald Trumps Weg führt über Steuererleichterungen, von denen vor allem Reiche profitieren. Die aber sparen das Geld. Bidens Ausgabenpolitik würde dagegen Investitionen und Konsum ankurbeln.

Flexibler Anleihefonds: Mit dem M & G Global Macro Bond investiert Jim Leaviss weltweit in alle Arten von Zinspapieren. Seine Anlagestrategie richtet sich an seinen makroökonomischen Erwartungen aus.







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Bildquellen: M&G