Verschlechterter Ausblick

Wirtschaftsweise rechnen für 2023 mit BIP-Rückgang um 0,2 Prozent

09.11.22 16:13 Uhr

Wirtschaftsweise rechnen für 2023 mit BIP-Rückgang um 0,2 Prozent | finanzen.net

Aufgrund des inzwischen "massiv verschlechterten Ausblicks" hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) seine Prognose für das Jahr 2022 gesenkt und erwartet, dass das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Deutschland nur noch um 1,7 Prozent steigt.

Für das Jahr 2023 erwarten die fünf Wirtschaftsweisen einen Rückgang des BIP von 0,2 Prozent. "Im Jahr 2023 dürften Exporte und Investitionen der Unternehmen aber allmählich wieder zunehmen", schrieben sie. Außerdem sei zu erwarten, "dass die Lieferengpässe langsam nachlassen und der hohe Auftragsbestand der Industrie abgearbeitet wird".

Im März hatten die fünf Weisen noch BIP-Zuwächse um 1,8 Prozent für dieses und 3,6 Prozent für das kommende Jahr vorhergesagt. Sie sind mit ihrer neuen Prognose für 2023 allerdings deutlich optimistischer als zum Beispiel der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), der vergangene Woche einen Rückgang der deutschen Wirtschaftsleistung um 3 Prozent für kommendes Jahr prognostiziert hatte. Die Bundesregierung erwartet hingegen offiziell ähnlich wie die Wirtschaftsweisen lediglich eine Schrumpfung der Wirtschaft um 0,4 Prozent.

Die nun höheren Produktionskosten würden zunehmend an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben, was auch die Kerninflation antreibe. Der Sachverständigenrat rechnete daher mit einer Inflationsrate von 8,0 Prozent für das Jahr 2022 sowie von 7,4 Prozent für das Jahr 2023. Hohe Inflationsraten dämpften das Wirtschaftswachstum und könnten sich negativ auf den Arbeitsmarkt auswirken. Sie könnten auch die Finanzierungs- und Investitionsentscheidungen der Unternehmen nachteilig beeinflussen.

"Die EZB muss daher weiterhin entschlossen handeln", forderte SVR-Mitglied Ulrike Malmendier. "Die Kunst dabei ist, die Zinsen mit Augenmaß zu erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen, ohne dass die Konjunktur übermäßig einbricht." Eine zu starke Reaktion über eine sehr kurze Frist könnte negative Auswirkungen auf die Volkswirtschaften in Europa haben und die Gefahr einer tieferen Rezession erhöhen. Eine zu schwache oder zu langsame Reaktion könnte die Europäische Zentralbank in die Lage bringen, später umso stärker reagieren zu müssen, was das Wachstum und die Beschäftigung noch stärker belasten würde.

Abhängigkeiten in den Lieferketten reduzieren

Da die Energiekrise und die hohe Inflation Haushalte und Unternehmen massiv belasteten, seien Maßnahmen gegen die Energieknappheit und möglichst zielgenaue Entlastungen angezeigt. Die Finanzierung dafür müsse sichergestellt werden, ohne die öffentlichen Finanzen übermäßig zu strapazieren. Geopolitische Veränderungen erforderten, dass Deutschland seine Abhängigkeiten in den Lieferketten reduziere. Der strukturelle und der demographische Wandel machten zudem eine zielgerichtete berufliche Weiterbildung sowie eine gesteuerte Erwerbsmigration unverzichtbar, erklärte der SVR in seinem Jahresgutachten 2022/23, das er Bundesregierung überreicht hat.

Das BIP-Wachstum in Deutschland dürfte im vierten Quartal 2022 nach der Prognose des SVR zurückgehen. So deuteten die veröffentlichten Konjunkturindikatoren auf eine schwächere Entwicklung als im dritten Quartal hin. Insbesondere das Konsumklima befinde sich auf einem historisch niedrigen Stand. Darüber hinaus zeigten Stimmungsindikatoren der Unternehmen wie der Einkaufsmanagerindex und der Ifo-Geschäftsklimaindex eine deutliche Verschlechterung an. Echtzeitindikatoren für die Industrie wie der Stromverbrauch bestätigten das Bild einer konjunkturellen Eintrübung im laufenden Quartal.

Die hohe Inflation dürfte sich zunehmend negativ auf die privaten Konsumausgaben auswirken. Sie dürften ab dem vierten Quartal rückläufig sein. Es sei aber zu erwarten, dass der Rückgang des privaten Konsums zumindest teilweise durch eine sinkende Sparquote der Haushalte kompensiert werde. Der SVR erwartet eine Zunahme der privaten Konsumausgaben um 4,6 Prozent 2022, aber einen Rückgang um 0,6 Prozent 2023. Die Ausrüstungsinvestitionen dürften um 1,6 Prozent dieses und 2,1 Prozent nächstes Jahr steigen. Der hohe Auftragsbestand des Verarbeitenden Gewerbes und sich allmählich entspannende Lieferengpässe dürften dazu führen, dass die Produktion ausgeweitet werde.

Der Außenhandel dürfte angesichts der nachlassenden Lieferkettenstörungen zunehmen, sich angesichts des schwachen konjunkturellen Ausblicks für die Weltwirtschaft allerdings gedämpft entwickeln. Die fünf Weisen rechneten mit einem Wachstum der Exporte um 1,5 Prozent in diesem und 1,4 Prozent im nächsten Jahr und der Importe um 5,5 Prozent sowie 1,5 Prozent. Der Arbeitsmarkt in Deutschland zeigt sich nach ihrer Analyse "trotz der konjunkturellen Eintrübung robust". Die Zahl der Arbeitslosen dürfte 2022 bei 2,422 Millionen und 2023 bei 2,498 Millionen und die Arbeitslosenquote bei 5,3 Prozent respektive 5,4 Prozent liegen.

Entlastungsmaßnahmen nicht zielgenau

Die privaten Haushalte seien durch die Inflation unterschiedlich stark belastet, betonten die Wirtschaftsweisen. So müssten ärmere Haushalte ihren Konsum besonders stark einschränken, weil sie einen größeren Anteil ihres Nettoeinkommens für Energie und Lebensmittel ausgäben, die sich besonders stark verteuerten. Angesichts der enormen Preissteigerungen seien umfangreiche Entlastungsmaßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt. "Viele der beschlossenen oder geplanten Maßnahmen sind jedoch nicht zielgenau, weil sie wie der Tankrabatt die Energiesparanreize schwächen oder im großen Umfang auch einkommensstarken Haushalten zufließen", kritisierten sie.

Der SVR forderte daher eine Verschiebung des von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) geplanten Abbaus der kalten Progression. "Der Ausgleich der kalten Progression ist steuersystematisch zwar grundsätzlich geboten", sagte SVR-Mitglied Achim Truger. Aktuell gehe es aber um eine zielgenaue Entlastung unterer und mittlerer Einkommensgruppen, und die öffentlichen Haushalte sollten nicht überstrapaziert werden. "Daher sollte der Abbau der kalten Progression auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden." Einkommensstarke Haushalte könnten auch streng befristet über einen Energie-Solidaritätszuschlag oder eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes an der Finanzierung der Entlastungsmaßnahmen beteiligt werden. "Das würde dazu beitragen, die Zielgenauigkeit des Gesamtpakets aus Entlastungen und Belastungen zu erhöhen", so die fünf Weisen.

Um den Anstieg der Energiepreise zu dämpfen, sollte die Energieknappheit nach ihrem Dafürhalten durch eine Ausweitung des Angebots und Einsparungen bekämpft werden. Die hohen Energiepreise belasteten vor allem die sehr energieintensiven Wirtschaftsbereiche wie die Metallindustrie oder die Herstellung von Glas und Keramik sowie besonders energieintensive Produkte aus der chemischen Grundstoffindustrie. "Die dauerhaft hohen Energiepreise werden den ohnehin anstehenden Strukturwandel in der Industrie weiter beschleunigen und die Energieintensität in der Industrie noch zügiger als bisher reduzieren", erklärte SVR-Mitglied Monika Schnitzer. "Eine breite Deindustrialisierung des Standorts Deutschland ist jedoch nicht zu befürchten."

Die fünf Weisen erklärten zudem, ein Aussetzen der Schuldenbremse "ließe sich im Jahr 2023 aufgrund der Folgen der Energiekrise erneut rechtfertigen". Die stattdessen vorgesehene Verschiebung von Finanzierungsaufgaben in das Sondervermögen Wirtschaftsstabilisierungsfonds könnte zwar insgesamt die schuldenfinanzierten Ausgaben stärker auf Energiepreisentlastungen begrenzen. Sie reduziere jedoch die Transparenz des Bundeshaushalts und sei unter diesem Gesichtspunkt kritisch zu bewerten. Die mittelfristige Tragfähigkeit des deutschen Staatshaushalts sahen sie nicht gefährdet. Perspektivisch müssten die Staatsfinanzen aber konsolidiert werden.

Wirtschaftsweise und BDI fordern EU-Gespräche zu US-Inflationsgesetz

Die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen und die deutsche Industrie befürchten, dass das US-Gesetz zur Inflationsbekämpfung Unternehmen aus Europa nach Amerika locken könnte. Daher sollte die Europäische Union mit den USA über Änderungen an den Maßnahmen reden, nicht aber in einen Subventionierungswettbewerb eintreten, wie Monika Schnitzer, Vorsitzende des Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR), bei der Vorstellung des Jahresgutachtens für die Bundesregierung forderte. Ähnlich kritisch äußerte sich auch die deutsche Industrie zu dem im August verabschiedeten Inflation Reduction Act (IRA) der USA.

"Wir sollten reden. Es geht nicht an, dass die Bedingungen so verzerrt werden. Wenn ein Land seine Unternehmen entsprechend stark subventioniert und sagt, vor allen Dingen nur die lokalen (Unternehmen) sollten zum Zuge kommen, dann verzerrt es den Wettbewerb", sagte Schnitzer. "Das sollte gerade in einem Land wie die USA nicht passieren. Wir erleben das umgekehrt immer mit China. Da finden wir es auch nicht gut."

Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, forderte, dass die USA bei der Umsetzung des Gesetzes ausländische Interessen berücksichtigen müsse. "In einigen Bereichen droht das Gesetz europäische und andere ausländische Unternehmen massiv zu benachteiligen. Statt der bislang geplanten schnellen Umsetzung muss Präsident Biden auf die ernsten Bedenken der EU eingehen", forderte Russwurm mit Blick auf US-Präsident Joe Biden.

Die US-Behörden müssten die Umsetzungsrichtlinien so großzügig wie möglich ausgestalten, um europäische Unternehmen nicht zu benachteiligen. "Anstatt einen für beide Seiten schädlichen Subventionswettlauf zu starten, sollten US-Regierung und EU-Kommission alle Anstrengungen unternehmen, Protektionismus, Investitions- und Handelsbarrieren unter Partnern abzubauen", so Russwurm. Neue Hemmnisse müssen unbedingt vermieden werden.

BERLIN (Dow Jones)

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