Scholz verliert wie beabsichtigt die Vertrauensfrage im Bundestag
Von Andrea Thomas
DOW JONES--Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat wie von ihm beabsichtigt die Vertrauensfrage im Bundestag verloren und damit den Weg für vorgezogene Neuwahlen frei gemacht. Scholz bekam 207 der 717 abgegebenen Stimmen, während 394 gegen ihn stimmten und 116 Abgeordnete sich ihrer Stimme enthielten.
Grund für die Vertrauensfrage ist der Bruch der Koalition zwischen SPD, Grünen und FDP am 6. November. Die Ampel hatte unterschiedliche Vorstellungen in Haushalts- und Finanzfragen. Scholz hatte FDP-Chef Christian Lindner als Bundesfinanzminister entlassen. Auch zwei weitere Minister mit FDP-Parteibuch schieden aus der Regierung aus. Scholz ist nun Kanzler einer Minderheitsregierung.
Scholz hatte in seiner Erklärung im Bundestag gesagt, dass die Wähler nun über den politischen Kurs bestimmen sollten. Er wolle mehr Investitionen ermöglichen, um die bröckelnde Infrastruktur wieder auf Vordermann zu bringen. Deutschland sei weniger verschuldet als die anderen sechs führenden westlichen Industrienation. Daher könne es sich höhere Investitionen leisten.
"Es ist höchst Zeit kraftvoll und entschlossen in Deutschland zu investieren. Das ist in den letzten Jahrzehnten zu kurz gekommen", sagte Scholz.
Für das Aussprechen des Vertrauens hätte Scholz eine absolute Mehrheit der Abgeordnetenstimmen benötigt.
Steinmeier am Zug
Da Scholz wie erwartet die Vertrauensfrage verloren hat, wird nun Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf Vorschlag von Scholz entscheiden, ob er innerhalb von 21 Tagen den Bundestag auflöst und vorgezogene Neuwahlen ausruft. Solch einen Fall gab es zuletzt 2005.
Steinmeier hat bereits angekündigt, vor solch einer Entscheidung mit den Fraktionen und Gruppen im Bundestag sprechen zu wollen, um die Chancen für eine andere stabile Regierung auszuloten. Allerdings erwartet er nach eigener Aussage nicht, solch eine Mehrheit zu finden.
Sollte der Bundespräsident sich dann wie erwartet für vorgezogene Bundestagswahlen entscheiden, wird diese wohl am 23. Februar 2025 stattfinden. Die Rechte und Pflichten des aufgelösten Bundestags bleiben aber bestehen, bis der Bundestag nach der Wahl zum ersten Mal zusammentritt. Der Bundestag kann also weiterhin Gesetze beschließen, und die Untersuchungsausschüsse machen ihre Arbeit weiter bis zur Bundestagswahl.
Bislang wurde seit Gründung der Bundesrepublik im Bundestag fünfmal von einem Kanzler die Vertrauensfrage gestellt. Willy Brandt (SPD) wurde 1972, Helmut Kohl (CDU) 1982 und Gerhard Schröder (SPD) 2005 das Vertrauen entzogen und der Bundestag aufgelöst. In zwei Fällen sprach eine Mehrheit im Bundestag dem Kanzler das Vertrauen aus, sodass er weiterregieren konnte, nämlich am 3. Februar 1982 bei Helmut Schmidt (SPD) im Zuge des Nato-Doppelbeschlusses und am 16. November 2001 bei Gerhard Schröder im Zuge des Afghanistan-Einsatzes.
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December 16, 2024 10:42 ET (15:42 GMT)