Atomare Haftung kann die Kreditwürdigkeit der europäischen Energieversorger belasten
Mit 131 Atomreaktoren haben die europäischen Energieversorger die weltweit größte Anzahl an Reaktoren.
Internationale und nationale Regulierungen verpflichten die Betreiber, in den nächsten beiden Dekaden für die zukünftigen Kosten für den Rückbau von Atomreaktoren sowie für Lagerung und Entsorgung des nuklearen Abfalls hohe Summen zurückzustellen. Dies kann im Endeffekt auch das Unternehmensratings beeinflussen, wie der von Standard & Poor’s Ratings Services veröffentlichte Bericht "European Utilities Nuclear Provisions: A 100 Billion Euro Liability." zeigt.
Ende 2014 betrugen die Verbindlichkeiten der größten acht Betreiber - unter ihnen z.B. die deutschen E.ON, EnBW und RWE - hierfür in der Summe mehr als 100 Milliarden Euro; dies entsprach unter Berücksichtigung der Adjustierungen von Standard & Poor’s etwa 22 % ihrer aggregierten Schulden. Der beschleunigte Atomausstieg in Deutschland bis 2022 unterstreicht die wichtigsten Fragen in Bezug auf die Rückstellungen: Decken sie die Kosten? Und verfügen die Unternehmen über die notwendige finanzielle Flexibilität, um mit möglicherweise geänderten Bewertungen der Rückstellungen in den nächsten Jahren umzugehen?
Nationale Regulierung erschwert Vergleichbarkeit
Anders als Pensionsverpflichtungen sind die Belastungen durch die Atomrückstellungen international schwer vergleichbar, da es keine standardisierten Bilanzierungsmethoden gibt. Stattdessen werden sie auf einer nationalen Basis definiert und unterliegen zudem den jeweiligen regulatorischen Anforderungen. Angesichts des geringen Spielraums bei Ratings der europäischen Energieversorger mit starkem Engagement im Nuklearbereich und des sehr hohen Verschuldungsgrads kann jegliche veränderte Bewertung der Rückstellungen die Bonitätskennzahlen, die Liquidität und schließlich auch das Kreditrating beeinflussen.Rückstellungshöhe abhängig von verschiedenen Faktoren
Die Höhe der Rückstellungen werden hauptsächlich durch allgemeine Kostenannahmen (aktuelle Kosten und Kostensteigerungen), versicherungsmathematische Annahmen einschließlich des nominalen Abzinsungssatzes und der Laufzeit bestimmt. Diese Annahmen werden zusätzlich zu technischen /operationellen Faktoren auch durch politische Entscheidungen beeinflusst, wie beispielsweise das frühere Abschalten der Atommeiler in Deutschland oder die Entscheidung, die Suche für ein Atommüllendlager neu aufzunehmen. Durch die lange Laufzeit ist die Rückstellungshöhe sensitiv zu einer Änderung des Abzinsungssatzes. In einem langfristigen Niedrigzinsumfeld, von dem Standard & Poor’s ausgeht, könnte dies zu höheren Rückstellungen führen. In Deutschland wurde erst kürzlich im Auftrag der Regierung ein Stresstest durchgeführt, um Kostenannahmen und Rückstellungshöhe der Betreiber zu prüfen - das Ergebnis bestätigte die Annahmen der Betreiber.Generell harmonisiert Standard & Poor’s keine Kostenannahmen, da diese durch unternehmens- und länderspezifische Faktoren beeinflusst werden und schwer vergleichbar sind. Jedoch verwenden die deutschen Betreiber einen vergleichsweise konservativeren realen Abzinsungssatz. Deshalb hat Standard & Poor’s die Atomrückstellungen von E.ON und RWE im Zusammenhang mit den Adjustierungen bei der Verschuldung bisher diskontiert. Abhängig von den Ergebnissen des Berichts der deutschen Regierung zu der Deckung der Haftungsrisiken, der 2016 präsentiert werden soll, wird Standard & Poor’s diese Anpassung jedoch überprüfen.
Von Tobias Büchler, Analyst bei Standard & Poor´s Ratings Services in Frankfurt.
Hier kommentieren jede Woche Analysten von Standard & Poor’s Ratings Services (S&P) die Entwicklungen in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten - und welche Herausforderungen sich daraus für Wachstum und Stabilität ergeben. S&P ist seit 30 Jahren mit inzwischen neun Standorten in Europa vertreten, im Frankfurter Büro arbeiten 120 Mitarbeiter aus 19 Ländern. Mehr Infos unter www.spratings.de
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