Machtwechsel made in China

Gelähmt: Warum Chinas Herrscher kaum handlungsfähig sind

07.11.12 13:00 Uhr

In den kommenden Tagen bestimmt die Kommunistische Partei ihre neue Spitze. Doch die neue Regierung wird frühestens im März 2013 ihre Arbeit aufnehmen. Bis dahin droht ein Machtvakuum.

von Sabine Gusbeth, Euro am Sonntag

Die Unsicherheit über die politische und damit auch wirtschaftliche Zukunft ist in China im Vorfeld des 18. Parteitags kommende Woche deutlich spürbar. Solch ein Wechsel in Chinas Machtzentrum findet nur einmal alle zehn Jahre statt. Insgesamt sollen 70 Prozent der Spitzenpositionen in Partei, Regierung und Militär neu besetzt werden.

Diesem Prozess fehlt jede Transparenz. Alle Berichte darüber, wer künftig Führungspositionen in Partei und Regierung übernimmt, über mutmaßliche Reformen und Konjunkturpakete sind Spekulationen. Das Einzige, was bislang ziemlich sicher ist: Neuer KPCh-General­sekretär wird Xi Jinping. Der KPCh-Chef steht dem Ständigen Ausschuss des Politbüros, dem innersten Macht­zentrum, vor. Hier wird über Chinas künftigen Kurs entschieden. Neben Xi wird zudem wohl Li Keqiang, designierter Premierminister, dem Gremium angehören. Unklar ist, wer außer diesen beiden aufgenommen wird. Neben dem innersten Machtzirkel werden auf dem Parteikongress Führungspositionen innerhalb der Partei, der Regierung und des Militärs neu vergeben. Auch die Chefsessel staatlicher Institutionen wie der Zentralbank könnten neu besetzt werden.

Formal wird die neue Regierung jedoch erst im März kommenden Jahres vom dann tagenden Nationalen Volkskongress bestätigt. Dort sollen auch Xi zum Staatspräsidenten und Li zum Premierminister ernannt werden. Viele Experten gehen daher davon aus, dass bis März ein Entscheidungsvakuum entsteht, in dem das Land praktisch handlungsunfähig ist.

Als Beleg für diese These ziehen sie die Übergangsphase zur jetzigen Führung unter Staatspräsident Hu Jintao an. Als im November 2002 die Lungenseuche SARS in Südchina ausbrach, war Hu gerade erst Parteichef geworden. Es vergingen Wochen, bis die neue Regierung Maßnahmen ergriff, um die Pandemie einzudämmen.

Ob die neue Führung sich zur Reformen durchringen kann, ist unklar. Dabei wären diese dringend nötig. Denn der beispiellose Aufstieg Chinas hat viele Verlierer zurück­gelassen. Die Schere zwischen Arm und Reich, Stadt und Land klafft auseinander. Die Unzufriedenheit über die Ungleichheit und die Empörung über die alltägliche Korruption sind allgegenwärtig. „Die jetzige Führung hat das Vertrauen der Menschen verloren, viele sind beunruhigt“, sagt der Soziologe Jing Jun von der Tsinghua Universität in Peking.

Zum Vertrauensverlust in die Politik kommt die Unsicherheit im Hinblick auf die wirtschaftliche Zukunft. Chinas Wachstum hat sich in diesem Jahr deutlich abgeschwächt. Die Ökonomen der Weltbank rechnen für 2012 mit einer Rate von 7,7 Prozent, im Vorjahr waren es noch 9,3 Prozent. Allerdings werden die Wachstumsziele der chinesischen Wirtschaft seit 2009 nur noch dank staatlicher Hilfe erreicht. Um die Folgen der Finanzkrise abzumildern, hatte die chinesische Regierung damals über 500 Milliarden US-Dollar an Investitionen zugesagt.

Rund fünf Prozentpunkte des Wirtschaftswachstums 2011 seien auf diesen künstlichen Stimulus zurückzuführen, sagt Patrick Chova­nec, Professor für Wirtschaft an der Tsinghua Universität. Er bezeichnet Chinas Wachstumszahlen daher als „fake“. Das Land könne nur dann auf den Wachstumspfad zurück­kehren, wenn es schnellstmöglich ein neues Geschäftsmodell findet und seine Wirtschaft reformiert.

Die entscheidende Frage lautet, welchen Weg Chinas Funktionäre einschlagen: Bedeuten die Reformen mehr oder weniger staatlichen Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft? Niemand weiß, welche Strömung derzeit die Oberhand hat. Es ist noch nicht einmal bekannt, für welche Seite die neuen Führer Xi Jinping und Li Keqiang stehen. Der Kontrast zur parallel stattfindenden US-Wahl, wo die Kandidaten ihre Standpunkte in TV-Duellen vor einem Millionenpublikum vertreten müssen, könnte nicht größer sein.

Die Ungewissheit bringt Unsicherheit. „Viele Chinesen haben Angst, vor allem die Reichen“, sagt Soziologe Jing. Viele hätten in den vergangenen Monaten ihr Geld außer Landes gebracht und sich ausländische Pässe besorgt, auch weil sie um ihre Besitzstände fürchten. Im vergangenen Jahr wurden schätzungsweise umgerechnet 450 Milliarden Euro ins Ausland überwiesen oder in ausländische Währungen getauscht. Im zweiten Halbjahr 2011 kam es zu einer regelrechten Kapitalflucht.

Auch wenn die kürzlich veröffentlichten Konjunkturindikatoren auf eine Stabilisierung der Wachstumsrate deuten, bleibt die Unsicherheit der Reichen. „Das sieht man auch an der ausufernden Spekulation“, betont Jing. Chinesen spekulieren derzeit mit Immobilien, Aktien, Jade, „ja sogar mit Walnüssen“.