Leid in Kiewer Vorstädten

Ukraine-Krieg: EU plant weitere Sanktionen gegen Russland - Kriegsgräuel in Butscha

04.04.22 13:42 Uhr

Ukraine-Krieg: EU plant weitere Sanktionen gegen Russland - Kriegsgräuel in Butscha | finanzen.net

Leichen auf den Straßen, ausgebrannte Autos, rußgeschwärzte Häuser ohne jeden Bewohner: Der Abzug der russischen Truppen aus der Umgebung der ukrainischen Hauptstadt Kiew hat am Sonntag das Ausmaß der Gräueltaten an der Zivilbevölkerung sichtbar gemacht.

Nach Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft wurden in den Kiewer Vorstädten bisher 410 Bewohner tot geborgen. Die Bilder vor allem aus der Vorstadt Butscha lösten international Entsetzen aus. EU-Ratspräsident Charles Michel sprach von einem Massaker und kündigte weitere EU-Sanktionen gegen Russland an, das vor gut fünf Wochen in das Nachbarland einmarschiert war.

Der britische Premier Boris Johnson sagte, er werde alles tun, "um Putins Kriegsmaschinerie auszuhungern". Dazu sollten Sanktionen und die militärische Unterstützung der Ukraine verstärkt werden. Wegen des russischen Angriffs hat der Westen bereits umfangreiche Strafmaßnahmen gegen Russland verhängt, auch gegen Präsident Wladimir Putin persönlich.

Bundesfinanzminister und Vizekanzler Christian Lindner (FDP) kündigte auf Twitter an, dass bereits ab Montag über eine Verschärfung von Sanktionen beraten werde. Kanzler Olaf Scholz (SPD) sagte, die "Verbrechen des russischen Militärs" müssten schonungslos aufgeklärt werden. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach sich dafür aus, Kriegsverbrecher vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf den russischen Truppen Genozid vor. "Das ist in der Tat ein Völkermord", sagte er dem US-Sender CBS am Sonntag laut Übersetzer auf eine entsprechende Frage der Moderatorin. "Wir sind Bürger der Ukraine und wollen nicht der Politik der Russischen Föderation unterworfen werden. Und das ist der Grund, warum wir zerstört und ausgelöscht werden." Selenskyj sagte, es sei trotzdem seine Pflicht als Präsident, mit Putin zu verhandeln. "Es gibt keinen anderen Weg als den Dialog, wenn wir nicht wollen, dass Hunderttausende, dass Millionen sterben."

Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba forderte härtere Sanktionen der G7-Staaten gegen Russland. Konkret forderte er von den sieben führenden demokratischen Wirtschaftsmächten ein Öl-, Gas- und Kohle-Embargo gegen Russland, einen Ausschluss aller russischen Banken aus dem Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift sowie eine Schließung aller Häfen für russische Schiffe und Waren.

US-Außenminister Antony Blinken verwies darauf, dass die USA schon länger davon ausgingen, dass es in der Ukraine zu schweren Kriegsverbrechen kommt. Dies sei eine "Realität, die sich jeden Tag abspielt, solange Russlands Brutalität gegen die Ukraine anhält. Deshalb muss es ein Ende haben."

Zu den Auslösern der Empörung gehörte eine Videoaufnahme des ukrainischen Verteidigungsministeriums, die Leichen mehrerer Menschen am Straßenrand zeigten, teilweise mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Dies berichtete auch der britische Sender BBC in einem Film aus Butscha. Das russische Verteidigungsministerium wies die Berichte als "Fake" zurück.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte zum Abzug der russischen Truppen aus der Umgebung von Kiew, dies sei kein wirklicher Rückzug. Vielmehr sei zu sehen, wie Russland seine Truppen "neu positioniert". Die Nato sei besorgt über mögliche verstärkte Angriffe, vor allem im Süden und im Osten. Zu beobachten war dies bereits am Wochenende - vermutlich mit dem Ziel, die dort besetzten Gebiete auszuweiten. Auch die Millionenstadt Odessa wurde angegriffen. Aus dem Verteidigungsministerium in Moskau hieß es, von Schiffen und Flugzeugen aus seien eine Ölraffinerie und drei Treibstofflager in der Nähe von Odessa beschossen worden.

Nach ukrainischen Militärangaben gingen die Kämpfe auch im Osten weiter. Der Beschuss von Städten im Gebiet Luhansk dauere an. Es gebe Kämpfe bei Popasna und Rubischne. Nach russischen Angaben wurden in der Nacht zum Sonntag in der Ukraine insgesamt 51 Militäreinrichtungen getroffen.

Das Rote Kreuz musste Versuche abbrechen, mit einem Buskonvoi Menschen aus der umkämpften Hafenstadt Mariupol herauszuholen. Trotzdem gelang es nach ukrainischen Angaben 765 Bewohnern, mit eigenen Fahrzeugen die Stadt zu verlassen. Fast 500 Menschen seien aus der Stadt Berdjansk geflohen, die ebenfalls am Schwarzen Meer liegt.

Der ukrainische Chefunterhändler bei den Verhandlungen mit Moskau, David Arachamija, sprach im Staatsfernsehen von positiven Signalen. Auch ein baldiges Treffen der Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Putin in der Türkei sei möglich. Hingegen dämpfte Russland diese Erwartungen. Es gebe noch viel zu tun, sagte Verhandlungsführer Wladimir Medinski.

Der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch rechnet mit einem Ende des Kriegs in "zwei bis drei Wochen". Es hänge nun alles vom Ausgang der Kämpfe im Südosten des Landes ab. Die russische Armee habe keine Reserve mehr, behauptete der Berater nach einem Bericht der Nachrichtenseite strana.news. Seit längerer Zeit gibt es Spekulationen, dass Putin den Krieg bis zu den Feiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs beenden könnte. In Russland ist dies am 9. Mai.

EU arbeitet unter Hochdruck an neuen Russland-Sanktionen

Die EU arbeitet nach Angaben des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell unter Hochdruck an neuen Strafmaßnahmen gegen Russland. "Wir sind solidarisch mit der Ukraine und dem ukrainischen Volk in diesen düsteren Stunden", teilte der Spanier am Montag nach Berichten über Gräueltaten in der Stadt Butscha mit. Die EU werde die Ukraine weiterhin nachdrücklich unterstützen und die Arbeiten an zusätzlichen Sanktionen gegen Russland als dringende Angelegenheit vorantreiben.

Was für Strafmaßnahmen vorbereitet werden und wann sie beschlossen werden sollen, teilte Borrell nicht mit. Die Arbeiten an Sanktionen seien wie immer vertraulich, sagte ein Sprecher am Mittag.

Über die aus befreiten ukrainischen Städten gemeldeten Gräueltaten zeigte sich Borrell im Namen der Mitgliedstaaten bestürzt und sprach von "Massakern". "Die erschreckenden Bilder von zahlreichen zivilen Todesopfern und Verletzten sowie die Zerstörung ziviler Infrastruktur zeigen das wahre Gesicht des brutalen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und ihr Volk", heißt es in der Erklärung. "Die Massaker in der Stadt Butscha und anderen ukrainischen Städten werden in die Liste der Gräueltaten aufgenommen werden, die auf europäischem Boden verübt wurden."

Borrell machte zudem deutlich, dass aus Sicht der EU die russischen Behörden für die während der Besatzung verübten Grausamkeiten verantwortlich sind. Um die Täter und zuständigen Regierungsbeamten und Militärs zur Rechenschaft zu ziehen, unterstütze man uneingeschränkt die am Internationalen Strafgerichtshof eingeleiteten Ermittlungen sowie die Arbeit der Untersuchungskommission des Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, teilte er mit. Auch helfe die EU dem ukrainischen Generalstaatsanwalt und der Zivilgesellschaft bei der Sammlung und Sicherung von Beweisen für Kriegsverbrechen.

KIEW/MOSKAU/BRÜSSEL (dpa-AFX)

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