Trotz Inflationsschmerzen ist die EZB in den Zinssenkungszyklus eingetreten
Die EZB senkt erstmals seit 2016 ihre Leitzinsen. Wegen anhaltenden Inflationsrisiken hält sie sich mit Aussagen zu weiteren Zinserleichterungen zwar noch bedeckt. Doch signalisiert sie, die Inflation mittlerweile unter Kontrolle zu haben.
So ist im weiteren Jahresverlauf mit erneuten Lockerungen zu rechnen. Die abnehmende Attraktivität vor allem bei Festgeldzinsen kommt dem konkurrierenden Aktienmarkt zugute.
Die Inflation ist unter Kontrolle! Wirklich?
Die Preise in der Eurozone sind zuletzt stärker als erwartet auf 2,6 nach 2,4 Prozent angestiegen.
Doch da die EZB an den Kapitalmärkten die Erwartung einer Zinswende im Juni selbst stark nährte, hatte sie gar keine andere Wahl, als eine Leitzinssenkung auf 4,25 nach zuvor 4,5 Prozent durchzuführen.
Als Rechtfertigung dient das scheinbar unbeirrbare Vertrauen von Notenbank-Chefin Lagarde in die längerfristige Fortsetzung der Desinflation.
Zwar erkennt die EZB die potenziellen Reflationsrisiken z.B. durch den anhaltend hohen Lohndruck an, redet diese aber mit Verweis auf Basis- und Aufholeffekte klein.
Diese entspannte Prognose ist aber mit Risiken behaftet. Denn bei weiterer Konjunkturaufhellung verfügen Unternehmen über mehr, nicht weniger "Preisweitergabemacht", eben auch von Lohnsteigerungen. Auch wenn die Lage noch durchwachsen ist, hat sich zuletzt die Konjunkturerwartung in der Eurozone verbessert. Dabei wird eine positive Stimmung bei Dienstleistern von einer aktuell weniger pessimistischen - wenn auch weiterhin vorsichtigen - Industrie flankiert.
Nicht zuletzt wird eine robustere Weltwirtschaft der europäischen Exportwirtschaft wieder mehr Leben einhauchen. Dieser absehbaren Erholung trägt auch die EZB durch leicht verbesserte Wachstumsprojektionen (2024: 0,9 statt 0,6 Prozent; 2025: 1,4 statt 1,5 Prozent; 2026: unverändert 1,6 Prozent) Rechnung.
Tatsächlich, vor dem Hintergrund aufgehellter Wirtschaftsaussichten, global umfangreicher Ausgabenprogramme und steigender Industriemetallpreise sieht auch EZB-Chefin Lagarde das Risiko, dass der Desinflationstrend in der Eurozone in den kommenden Monaten zunächst Mühe hat, sich zu verstetigen. Die EZB selbst hat ihre Inflationsprojektion 2024 ungeachtet ihrer verbalen Beruhigungsbemühungen leicht angehoben. (2024: 2,5 von 2,3 Prozent; 2025: 2,2 statt 2,0 Prozent; 2026: unverändert 1,9 Prozent). Die Erreichung ihres Inflationsziels verschiebt sich damit ein Jahr nach hinten. Insofern macht sie aktuell keine konkreten Angaben über den zukünftigen Zinspfad.
Und dennoch, mit dem Verweis, weiterhin datenabhängig zu entscheiden, lässt sie die Tür für weitere Zinssenkungsphantasie 2024 offen.
Es ist nicht verwegen, davon auszugehen, dass aus dieser Phantasie Realität wird. Die EZB hat auch die europäischen Risiken auf dem Radar. Grundsätzlich hat sie längst eine Priorisierung des Stabilitätsbegriffs vorgenommen: Konjunktur-, soziale und System- gehen vor Inflationsstabilität.
Eine "Zins-Schwalbe" macht noch keinen Konjunktur-Sommer, aber…
Eine Zinssenkung allein setzt noch keine wirtschaftlichen Kräfte frei. Die Rückzahlung von Krediten bleibt für Unternehmen angesichts positiver Realzinsen erschwert.
Doch sind die Zinsaussichten freundlich. So gehen die Terminmärkte immerhin von einer weiteren Zinssenkung im September um 25 Basispunkte aus. Eine Zugabe ist aber alles andere als ausgeschlossen.
Von dieser Zinsentspannung werden dann auch (konjunkturabhängige) europäische Aktien aus der zweiten und dritten Reihe profitieren. Sie sind finanzierungsabhängiger und reagieren daher deutlich positiver auf Zinssenkungen als die großkapitalisierten Dick-Schiffe aus der ersten Reihe.
Marktlage - Konjunkturrisiken im Fokus
Trotz positiver Konjunkturbetrachtung klopfen die Aktienbörsen dennoch die aktuell negativen Konjunktur-Schlagzeilen auf ihr Drohpotenzial ab.
Ist die Korrektur beim Ölpreis von in der Spitze acht Prozent ein Beweis dafür, dass die internationalen Wirtschaftsaussichten doch nicht so rosig sind? Bei genauer Betrachtung reagiert Öl nicht auf vermeintliche Nachfrageeinbußen. Es fokussiert vor allem auf den sich abzeichnenden Strategiewechsel der ölproduzierenden Länder, der de facto eine Angebotsausweitung bedeutet. So hat die OPEC+ zuletzt eine teilweise Rücknahme ihrer Förderkürzungen ab Oktober über einen Zeitraum von 12 Monaten beschlossen. Vor allem Saudi-Arabien ist nicht mehr bereit, über freiwillige Produktionskürzungen wertvolle Marktanteile an andere Öl-Staaten zu verlieren und damit Einnahmeeinbußen zu erleiden. Das Land braucht diese dringend zum nachhaltigen Umbau seiner Wirtschaft und der Schaffung eines attraktiven Industriestandorts. Übrigens haben die USA die zwischenzeitlich von der OPEC hinterlassene Förderlücke mit der Ausweitung ihres Öl-Angebots wieder aufgefüllt. Der Öl-Absolutismus der OPEC ist vorbei.
Nach schwachen Daten aus der Industrie und vom Arbeitsmarkt hinterfragen Anleger ebenso das soft landing der US-Wirtschaft. Doch würde ein konjunkturschwächeres Szenario die Inflationskräfte bremsen und die US-Notenbank eher früher als später über Zinssenkungen nachdenken lassen. Bereits aktuell bildet sich der Gesamtindex für die persönlichen Konsumausgaben als von der Fed bevorzugtes Inflationsmaß - wenn auch nur in Trippelschritten - weiter zurück. Und jede Zinsentspannung kommt neben der kreditverliebten US-Wirtschaft auch den Aktienmärkten zugute, die ihren ärgsten Wettbewerber geschwächt sehen.
Doch solange die Fed ihre abwartende Zinspolitik betreibt, sind zwischenzeitlich erhöhte Kursschwankungen an den Börsen einzukalkulieren. Wann es endlich zum amerikanischen Zins-Happy End kommt, werden die Aktienmärkte aus der Fed-Sitzung in der nächsten Woche ablesen.
In China hellt sich das Konjunkturbild gemäß der von der Nachrichtenagentur Caixin ermittelten Einkaufsmanagerindices für Industrie und Dienstleister zunehmend auf.
Unabhängig von China gilt das im Übrigen für Asien insgesamt. Insbesondere in Indien unterstützt die robuste Konjunktur eine positive Aktienentwicklung. Sicherlich hat die Unsicherheit nach den Parlamentswahlen zugenommen. So blieb der erwartete Erdrutsch-Sieg von Modis Partei BJP aus, die mit 240 (nach zuvor 303) nicht mehr die für eine alleinige Mehrheit nötigen 272 Sitze hält. In seiner bevorstehenden dritten Amtszeit ist Modi auf die Unterstützung seiner Koalitionspartner angewiesen. Zudem wird es durch die insgesamt kleinere Koalitionsmehrheit (294 Sitze nach zuvor 353) für die künftige Staatsmacht schwerer, "durchzuregieren". Allerdings wird Modi angesichts der breiten Wertschätzung seiner Wirtschaftspolitik auch bei Oppositionsparteien immer noch viel für Indiens Wachstumsstory tun können.
Zur Kompromissfindung könnte Modi u.a. seine hindunationalistische Agenda abschwächen und sich der wachsenden Ungleichheit als einem der Hauptgründe für die Wahl-Schlappe zuwenden. Davon würde schließlich auch die breite Bevölkerung und damit der Binnenkonsum profitieren. Längerfristig dürfte die im Trend steigende Industriestimmung den indischen Aktienmarkt weiter untermauern, so dass Aktienrücksetzer zum Aufbau von Positionen einladen.
Von einer insgesamt festeren Weltwirtschaft profitieren deutsche (Export-)Unternehmen aufgrund ihrer hervorragenden Industriegüter und Dienstleistungen. Aufwärtsgerichtete ifo Geschäftserwartungen sprechen für ein zukünftig robustes Gewinnwachstum, was deutschen Aktien weiter Auftrieb verleiht.
Sentiment und Charttechnik DAX - Buy the dips
Aus Sentimentsicht zeigen die spekulativen Netto-Long-Positionen am US-Aktienmarkt wieder eine deutliche Risikobereitschaft an, die Raum für Korrekturen zulässt.
Wie in der Vergangenheit ist aber davon auszugehen, dass diese u.a. aufgrund der guten Konjunkturaussichten schnell abgearbeitet werden. So setzen große Kapitalsammelstellen gemäß Umfragen weiterhin auf zyklische Sektoren wie Industrie und Finanzen.
Ein mittlerweile wieder im neutralen Bereich liegender Fear & Greed Index von CNN Business deutet nicht auf markante Börseneinbrüche hin.
Charttechnisch liegen bei einer Korrektur erste Unterstützungen bei 18.635, 18.625, 18.395 und 18.250 Punkten. Gestaffelt befinden sich darunter weitere Haltelinien bei 18.235, 18.225, 18.015 sowie 18.000. Setzt der Index seine Aufwärtsbewegung fort, trifft er bei 18.671, 18.785 und 18.790 auf Widerstände. Darüber liegen weitere Barrieren bei 18.850 und 18.900 Punkten.
Der Autor dieses Artikels ist Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG.
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Nach Abschluss seines betriebswirtschaftlichen Studiums begann Robert Halver seinen beruflichen Werdegang zunächst als Wertpapieranalyst bei der Sparkasse Essen. Anschließend arbeitete er als Analyst und Aktienstratege bei der Privatbank Delbrück & Co in Frankfurt.
2001 wechselte Robert Halver zur Schweizer Privatbank Vontobel. Sein Aufgabenschwerpunkt war die Formulierung der Anlagestrategie der Vontobel Gruppe in Deutschland.
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