Quo vadis, Finanzmärkte im 2. Halbjahr 2020?
Die Aktienmärkte gehen gespalten in die zweite Jahreshälfte. Einerseits signalisieren die globalen Frühindikatoren mit tatkräftiger Hilfe von Geld- und Fiskalpolitik sogar V-förmige Wirtschaftserholungen.
Andererseits muss die Konjunktur-Saat auch tatsächlich aufgehen, zumal weltweit wieder zunehmende Corona-Infektionszahlen Sorgen vor erneuten Shutdowns nähren. Welche Seite behält die Oberhand?
Zweite Infektionswelle ja, allgemeine Lockdowns nein
China und Europa stellen konsequent unter Beweis, dass die Eindämmung des Corona-Virus abseits lokaler Ausbrüche erfolgreich sein kann. Dagegen markieren die Neuinfektionen in den USA nahezu täglich neue Rekordstände, vor allem in den südlichen und westlichen Bundesstaaten. Allerdings will die US-Politik Virusinfektionen nur regional und behutsam eindämmen, um den konjunkturellen Erholungsprozess nicht zu gefährden. Vor diesem Hintergrund spricht auch nichts für einen generellen Lockdown.
Gute harte Konjunkturdaten als Bringschuld
Zur wirtschaftlichen Ankurbelung tut die Politik weiterhin alles. So schreitet in den USA die Planung eines fünften Konjunkturpakets voran. Positiv zu bemerken ist, dass es vor allem auf verbesserte Standortbedingungen, auf Infrastruktur und Digitalisierung, setzt.
Den massiven Stimmungsaufhellungen in der US-Wirtschaft - stärkster Anstieg des ISM Index für die Industrie seit knapp 40 Jahren - sollten bald harte Daten folgen, um keine neue Konjunkturskepsis aufkommen zu lassen. Konkret wird auf langfristig verbesserte Industrieaufträge gewartet.
Immerhin, mit einem bereits den zweiten Monat in Folge soliden Stellenaufbau hat der Arbeitsmarkt geliefert. Die Beschäftigungskrise hat ihren Höhepunkt bemerkenswert hinter sich gelassen.
Stabilität kommt nur in politischen Sonntagsreden vor
Spätestens mit der Corona-Krise sind die Notenbanken zu den Erfüllungsgehilfen des staatlichen Wiederaufbaus geworden. Sie zahlen den Schulden-Deckel, sie betreiben Staatsfinanzierung.
So prüft die US-Notenbank laut letztem Sitzungsprotokoll bereits das Instrument der Yield Curve Control (YCC). Bei dieser Zinskurvenkontrolle wird nicht nur die Höhe der kurzfristigen, sondern auch die der längerfristigen Zinsen gesteuert. So könnte die Fed dem Markt z.B. mitteilen, dass sie die Renditen 10-jähriger US-Staatsanleihen bei null Prozent verankern will. Allein schon diese konkrete Ansage würde deutlich renditesenkenden Druck auch auf die gesamte Zinsstrukturkurve ausüben. Den Rest erledigen die Anleihekäufe. Es gäbe also in Hülle und Fülle Zentralbankgeld zu noch günstigeren Konditionen. Mit immer planwirtschaftlicheren Methoden wird die Finanzierung des US-Staatshaushalts ohne schmerzhafte Kreditbedingungen gesichert.
Auch in Europa bleibt die EZB das Killerargument gegen jede neue Staatsschuldenkrise. Der Stabilitätsgeist der Bundesbank ist endgültig durch die offenen Fenster im Sitzungssaal des EZB-Direktoriums entfleucht.
Vor dem EU-Gipfel am 17. und 18. Juli wird es in puncto Wiederaufbaufonds zwar noch stabilitätspolitische Reibereien über die Gewährung großzügiger Geldgeschenke an die wirtschaftlich angeschlagenen Euro-Südstaaten geben. Mit der Wucht des deutsch-französischen Schulterschlusses jedoch wird sich die weitere Schleifung der europäischen Stabilitätskriterien fortsetzen. Auch Berlin ist mittlerweile der Meinung, dass dem Zusammenhalt Europas Priorität einzuräumen ist.
Die Finanzmärkte betrachten Stabilität als Luxus, den man sich nicht mehr leisten kann. Sie laben sich dran, dass eine neue Euro-Krise vorerst vom Tisch ist.
US-Politik als Aktien-Handicap?
Grundsätzlich müssen sich die Börsen bis zur US-Präsidentschaftswahl im November auf zwischenzeitliche Irritationen in Handelskonflikten einstellen. Denn das Feindbild China kommt bei zwei Dritteln der Amerikaner gut an. Trump wird seinem Gegenkandidaten Joe Biden vorwerfen, als Vizepräsident unter Obama dessen verhaltenen Umgang mit China mitgetragen zu haben.
Dennoch offenbart sich hinter Trumps Fassade als unnachgiebigem Handelskrieger viel Realitätssinn. Im Wahlkampf kann er weitere handelsseitige Reibungsverluste für Konjunktur und Aktienmärkte nicht gebrauchen. Umgekehrt hat ebenso Export-China kein Interesse an neuen Handelseskalationen, um die eigene Konjunkturgenesung nicht zu gefährden.
Aktuell liegt Biden in Umfragen deutlich vorne. Mittlerweile wenden sich selbst republikanische Wähler und Politiker vom Trumpschen Führungsstil nach Gutsherrenart ohne strategisches Leitplankensystem ab. Bis zur Wahl ist auch wegen des Mehrheitswahlsystems in Amerika noch nichts vorentschieden. Grundsätzlich wäre auch ein Präsident Biden für Wall Street akzeptabel.
Marktlage - Crash-Angst ist unangebracht
Grundsätzlich treffen die umfangreichsten Konjunkturprogramme und größten wirtschaftlichen Nachholeffekte auf niedrigste Zinsen bei üppigster Geldausstattung. Insbesondere die Liquiditätshausse mit der Konsequenz unattraktiver Zinsen hält einen Anlagenotstand aufrecht, der für eine stabile Basis bei Aktien als Anlagealternative sorgt.
Fundamental ist die beginnende Berichtsaison für die Börsen sicher eine Herausforderung. Laut Finanzdatenanbieter Refinitiv I/B/E/S rechnen Analysten für den S&P 500 im II. Quartal mit einem Gewinnrückgang um 42,8 Prozent gegenüber Vorjahr. Davon betroffen sind alle elf Sektoren des Leitindex.
Umso wichtiger sind die Ausblicke, konkret, inwiefern sie mit Blick auf die positiven Frühindikatoren auf ein Comeback der Unternehmensgewinne 2021 hindeuten.
In Deutschland dürfte die Wirtschaft laut ifo Institut in der zweiten Jahreshälfte schrittweise kräftig zulegen: Geschätzt wird ein Plus zum jeweiligen Vorquartal von 6,9 im III. und 3,8 Prozent im IV. Quartal. Doch bietet die schwer einschätzbare Corona-Krise auch weltweit viel Raum für Enttäuschungen. Immerhin haucht der Konjunkturoptimismus dem Gewinnwachstum deutscher Unternehmen neues Leben ein.
Aber auch weltweit scheint der Gewinntrend als fundamentale Kraft am Aktienmarkt allmählich zu drehen.
China, das zuerst von der Viruskrise betroffen war, zeigt auch als erstes Land Anzeichen einer wieder wachsenden Wirtschaft mit großen Positiveffekten auf die Industriegewinne. Das erste Mal seit sechs Monaten steigen sie sogar sprunghaft an.
Für die Aktienmärkte hängt viel davon ab, ob sich die Virus- und Wirtschaftsdaten schlechter entwickeln als eingepreist ist. Grundsätzlich werden Ängste vor einer zweiten Infektionswelle bleiben, bis ein Impfstoff vorhanden ist. Hoffnungsvoll stimmt hier, dass nach Behandlung mit einem der Impfstoffkandidaten des deutschen Biotech-Unternehmens Biontech alle Testpersonen Corona-Antikörper entwickelt haben.
Sentiment und Charttechnik DAX - Zunächst breiter Seitwärtstrend
Aus Sentimentsicht warten Anleger zunächst einmal ab, was in einer wieder rückläufigen Investitionsquote unter US-Fondsmanagern zum Ausdruck kommt. Eine zweite Ausverkaufswelle wird jedoch nicht befürchtet.
Als Kontraindikator liegt der Anteil der Optimisten abzüglich des der Pessimisten am US-Aktienmarkt unterhalb der ersten Standardabweichung und deutet damit auf Stabilisierung hin.
Momentan werden beim DAX Werte unterhalb von 12.200 Punkten als Kaufgelegenheit betrachtet, wenngleich auch nur für Spekulationen und weniger für langfristige Überzeugungskäufe.
Einerseits sind viele positive Nachrichten eingepreist, die aber auch aufgrund ihrer Bedeutung eine markante Konsolidierung, geschweige denn Crash ausschließen. Insgesamt bleibt die Aktienentwicklung über den Sommer hinweg in einem breiten Seitwärtstrend volatil. Für die nächsten 30 Tage liegt die Schwankungsbreite laut VDAX-New Volatilitätsindex zwischen 11.512 und 13.704 Punkten.
Charttechnisch liegt auf dem Weg nach oben ein erster Widerstand bei 12.615 Punkten. Eine weitere Barriere folgt dann bei 12.700. Bei einer erneuten Abwärtsbewegung liegen erste Unterstützungen bei 12.400, 12.350 und 12.156. Es folgen Haltelinien bei 12.118, 11.925 und 11.807 Punkten.
Der Autor dieses Artikels ist Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG.
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Nach Abschluss seines betriebswirtschaftlichen Studiums begann Robert Halver seinen beruflichen Werdegang zunächst als Wertpapieranalyst bei der Sparkasse Essen. Anschließend arbeitete er als Analyst und Aktienstratege bei der Privatbank Delbrück & Co in Frankfurt.
2001 wechselte Robert Halver zur Schweizer Privatbank Vontobel. Sein Aufgabenschwerpunkt war die Formulierung der Anlagestrategie der Vontobel Gruppe in Deutschland.
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