Halvers Kapitalmarkt-Monitor Robert Halver

"Happy days are here again"…

13.11.20 09:55 Uhr

"Happy days are here again"… | finanzen.net

singt man in Amerika immer gerne, wenn Krisen oder Risiken abebben. Und an den Aktienmärkten verlieren gleich zwei Aktien-Risiken an Bedeutung.

Die USA bekommen einen Präsidenten, der Geo- und Handelspolitik nicht mehr nur als Kampfarena betrachtet. Nicht zuletzt steht ein wirksamer Corona-Impfstoff offenbar kurz vor der Zulassung, der Chancen auf ein mittelfristiges Zurückfahren der konjunkturschädlichen Lockdowns nährt. Das sind doch gute Aussichten für Aktien, oder?

Show time for Joe, golf time for Donald

Mit Joe Biden kommt Vertrauen in die US-Außen- und Handelspolitik zurück. Der Amtsinhaber wird zwar mit allen Mitteln an der Legende arbeiten, er habe nur wegen Wahlbetrugs verloren. Es ist aber zu hoffen, dass die republikanische Partei seine eventuelle Politik der verbrannten Erde verhindert. Das könnte im Extremfall auch zu Irritationen an den Märkten führen. Grundsätzlich aber sind Trumps Tage gezählt. An der Börse ist er bereits der "zukünftige Ex-Präsident".

Amerika braucht dringend ein weiteres Stimuluspaket. Aber wie steht es um dessen politische Durchsetzbarkeit? Während die Demokraten ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus behaupten, ist die endgültige Machtverteilung im mitstimmungspflichtigen Senat noch bis zu den Stichwahlen in Georgia im Januar fraglich. Ein Triple in allen drei machtrelevanten Institutionen böte den Demokraten zwar die Chance des auch wirtschaftspolitisch konsequenten Durchregierens.

Demokratische Dreifaltigkeit würde an den Finanzmärkten jedoch skeptisch betrachtet. Sie befürchten, dass in diesem Fall die bei Demokraten beliebten Elizabeth Warren und Bernie Sanders an Einfluss gewinnen. Beide machen aus ihrer Vorliebe für "linke", staatlich gelenkte Wirtschaftspolitik kein Hehl. Sollten sie - um die gespaltene demokratische Partei zu versöhnen - sogar prominente Ministerposten erhalten, drohen deutlich höhere Unternehmenssteuern und massive Branchenregulierungen. Das ist nicht der Stoff, aus dem die Aktienträume sind.

Da wäre der Börse ein Macht-Split mit einem republikanisch bleibenden Senat als marktwirtschaftliches Korrektiv lieber. Jedoch trägt dieses Szenario wiederum den Makel, dass es zum Gridlock, zum Stillstand im Polit-Betrieb kommt. Schlammschlachten sind ja für beide Parteien nichts Ungewöhnliches. Dann wäre Biden als Menschenfischer für die Ausgestaltung von Kompromissen gefragt. Sollten dann größere Konjunkturpakete im Ausgleich für weniger staatswirtschaftlichen Überschwang vereinbart werden, wären die Finanzmärkte glücklich.

Bis es so weit überhaupt kommt, kann sich die Polit-Volatilität auch auf die Börsen niederschlagen.

Die Schwellenländer hätten Biden gewählt

China ist über den Wahlsieg Bidens wenig erfreut. Das Feindbild verliert an Kraft. Eine weitere geopolitische Spaltung durch die USA, gerade auch des westlichen Bündnisses, hätte Peking mehr strategische Einflusschancen gewährt. Ein Amerika, dass seinen Rückzug in die Isolation beendet und auf der Weltbühne zurück ist, erschwert diese Strategie. Überhaupt, da die freie Welt wieder mehr zusammenhält, scheint auch so manche andere autoritäre Regierung plötzlich Kreide gefressen zu haben. Gut so!

Grundsätzlich erhöht sich der Druck auf China, mit Amerika zusammenzuarbeiten. Und auch Biden hat nichts gegen eine friedliche Koexistenz mit China einzuwenden, wenn es seine unfairen Handelspraktiken deutlich zurückfährt. Wenn statt Konfrontation Kooperation und statt Handelskrieg mehr weltwirtschaftliches Potenzial angesagt ist, liegt darin für die Aktienmärkte der Schwellenländer eine große Chance. Die Risikoaversion der Anleger ihnen gegenüber lässt nach. Tatsächlich zeigen sie alle Aufwärtsbewegungen. Nach der ersten allgemeinen Euphorie wird sich die Spreu jedoch wieder schnell vom Weizen trennen. Den Asiaten ist gegenüber Südamerika klar Priorität einzuräumen. Sie sind deutlich innovativer, wettbewerbsfähiger und ruhen sich nicht auf Bodenschätze aus.

Europa muss das Biden-Zeitfenster für sich nutzen

Europa, dass erkennbar Mühe hat, sich ohne amerikanischen Leitwolf selbst ordentlich zu organisieren, freut sich über zukünftig wieder mehr transatlantische Zusammenarbeit und mit Blick auf seine Exportwerte über weniger Protektionismus. Übrigens, durch die Abwahl des EU-phoben Trumps kann der britische Premierminister Johnson auch nicht mehr auf ein briten-freundliches Handelsabkommen mit Amerika hoffen. Das gibt der Hoffnung Raum, dass London zur Verhinderung großer Wirtschaftseintrübungen doch noch auf Deal- und nicht auf No Deal-Brexit setzt. Europa bliebe ein chaotisches Zusammenbrechen von Lieferketten und Handelsströmen erspart.

Allerdings wird für Europa kein Brei vom transatlantischen Himmel regnen. Biden-Amerika denkt auch nur an einen: An sich. Und nichts versöhnt die gespaltenen Staaten von Amerika so sehr wie ökonomische Perspektiven. Biden wird also auf "Buy American" und Produktion im In-, nicht im Ausland setzen. Auch die Demokraten sind keine unlimitierten Gutmenschen. Sie kämpfen zwar nicht mit dem Schwert, aber das Florett kommt durchaus zum Einsatz. Und so gibt es die Leistung eines erhöhten transatlantischen Mitgefühls der USA auch nur für handels-, verteidigungs- und geopolitische Gegenleistungen. Nicht zuletzt will Biden, dass wir uns in der US-chinesischen Auseinandersetzung an die amerikanische Seite setzen. Immerhin will die neue US-Regierung Verhandlungslösungen, keine öffentlichen Demütigungen.

Dennoch, Europa muss das Zeitfenster der Entspannungspolitik Bidens nutzen, um endlich auf eigenen Füßen zu stehen. Wer weiß schon, wer 2024 US-Präsident wird. Oder wollen wir alle vier Jahre beten, dass bloß ein Europa-freundlicher Präsident gewählt wird, der uns möglichst viel geo-, wirtschafts- und handelspolitische Drecksarbeit abnimmt?

Der Müßiggang Europas muss beendet werden. Wir müssen erwachsen werden, selbst Gewicht auf die globale Waage bringen. Selbst wenn es schwer ist, es geht um Zusammenhalt, Innovationspolitik und Wettbewerbsfähigkeit. Nach dem II. Weltkrieg ist Deutschland nicht mit politischem Gesundbeten und Staatswirtschaft zu einer führenden Industrienation geworden. In diesem Zusammenhang müssen die wirtschaftlichen Chancen des Megathemas Klimaschutz genutzt werden, statt nur ideologische Debatten zu führen. China und Amerika werden sich dieses Themas brutal annehmen, um es uns möglichst wegzunehmen. Die großzügigste Geldpolitik der EZB und die Verteilung von Geldgeschenken zum Erhalt der europäischen Freundschaft ersetzen keine Reformpolitik.

Sollte Europa diese Wende nicht schaffen, heißt das zwar nicht, dass europäische Aktien nicht steigen werden. Aber ihre bereits lange Underperformance gegenüber der amerikanischen Konkurrenz setzt sich dann fort.

Leider dokumentiert sich der Innovations-Müßiggang Europas auch in der Minderentwicklung des TecDAX gegenüber dem US-Technologieindex Nasdaq Composite.

Licht am Ende des dunklen Lockdown-Tunnels?

Offensichtlich ist es dem Mainzer Unternehmen BioNTech in Zusammenarbeit mit dem US-Pharmakonzern Pfizer gelungen, einen Impfstoff zu entwickeln, der die Infektionsgefahr mit Covid-19 um ca. 90 Prozent reduziert. Das ist ein großartiger medizinischer Durchbruch. Und es wäre auch ein game changer für die Weltkonjunktur, die von ihrem größten Handicap befreit würde.

Dennoch muss man realitätsbewusst bleiben. Viele Fragen sind noch offen. Wann liegt z.B. der Impfstoff konkret vor und vor allem wann ist mit einer befriedigenden Durchimpfungsrate zu rechnen, die Lockdowns unnötig macht. Wenn sich hier Verzögerungen einstellen, ist konjunkturelles Enttäuschungspotenzial mit Streuung auf die Aktienmärkte vorhanden. RKI-Chef Wieler spricht davon, "die Pobacken noch ein paar Monate zusammenzukneifen".

Ohnehin macht die Konjunkturerholung im Winter wegen der zweiten Corona-Welle Pause. Und die auf die (Wirtschafts-)Psyche wirkende Unsicherheit, ob es weitere Einschränkungen gibt bzw. wann wieder gelockert wird, kommt erschwerend hinzu. Auch die ifo Geschäfts- bzw. die ZEW Konjunkturerwartungen deuten auf eine Beruhigung beim Wachstum hin.

Vom heutigen Standpunkt stimmt der Blick in die Zukunft dennoch positiv, wenn die Politiker weltweit den "Lockdown total" verhindern. Insgesamt ist angesichts der ergriffenen Konjunkturmaßnahmen und der Befriedung des Handelskriegs mit einem starken zweiten Wirtschaftshalbjahr 2021 zu rechnen. Das Bundesfinanzministerium hat bereits angedeutet, dass es im Extremfall weitere Konjunkturprogramme geben wird. Vor der Bundestagswahl will sich keine Partei eine offene wirtschaftliche Flanke erlauben.

Export-Deutschland profitiert ohnehin vom abzusehenden Abebben des Handelskriegs und der Erholung der asiatischen Wirtschaft, wo Corona offenbar an Schrecken verloren hat. Der chinesische Einkaufsmanagerindex des Wirtschaftsmagazins "Caixin" befindet sich deutlich im Expansionsbereich und das auf einem Mehrjahreshoch.

Marktlage - Marktbreite nimmt zu und macht Aktien stabiler

Mit Joe Biden als US-Präsident und der Aussicht auf einen Impfstoff wird Sicherheit weniger nachgefragt. Das lässt sich bei Gold und insbesondere bei Anleiherenditen ablesen, die wieder ansteigen.

Zunächst ist die Sorge aber unbegründet, dass die Notenbanken die Zinsen ungehindert steigen lassen. Der nachhaltigen Konjunkturstabilisierung und dem reibungsfreien Management der apokalyptischen Verschuldung werden sie nicht im Wege stehen. Auch sollen anziehende Renditen keine starken Währungen nach sich ziehen. Heute will jedes Land Exportnation sein. Für dieses Szenario sprechen auch die Verlautbarungen der EZB, die vor rezessiven Gefahren warnt und sich damit selbst die erforderlichen Alibis für noch mehr geldpolitische Üppigkeit schafft. Insgesamt verliert der Aktienmarkt sein Leib und Magen-Argument "Liquiditätshausse" nicht.

Die abzusehende Entspannung im Handelskrieg sowie zumindest die Impfstoff-basierte Aussicht auf Lockdown-Lockerungen verleihen konjunkturabhängigen Werten wieder Schwung. High-Tech-Werte sind nicht mehr einzigartig.

Gleichzeitig atmen Value-Investoren auf, die seit 2017 im Vergleich zu Growth das Nachsehen hatten. Substanzwerte konnten mit den Wachstumstiteln vor allem aus dem IT-Lager nicht mithalten. Doch mit dem ökonomischen Tauwetter wird ihnen auch wieder warm ums Herz.

Sentiment und Charttechnik DAX - Kurzfristig konsolidierend, mittelfristig positiv

US-Wahl und Impfstoff-Phantasie haben für Euphorie am Aktienmarkt geführt, die sich mittlerweile aber wieder beruhigt hat.

Zurzeit ist Amerika eine "lame duck". Entscheidungen über ein erforderliches, neues und großes Konjunkturpaket werden nicht vor Anfang des nächsten Jahres getroffen. Da gleichzeitig eine ausreichende Durchimpfung der Bevölkerung vor Mitte bis Ende 2021 nicht zu erwarten ist, sind Enttäuschungen in puncto Lockdown-Lockerungen zwischenzeitlich einzukalkulieren.

Doch ist die Aktienperspektive stabil. Aufgrund der aufgehellten Nachrichtenlage hat die Risikofreude an den Finanzmärkten grundsätzlich zugenommen. Eine kleine Jahresend-Rallye ist möglich.

Charttechnisch liegen erste Unterstützungen bei 12.960, 12.671 und 12.370 Punkten. Bei einer Erholung trifft der Index bei 13.240, 13.300, 13.500 und 13.689 auf Widerstände.

Der Autor dieses Artikels ist Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG.

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Nach Abschluss seines betriebswirtschaftlichen Studiums begann Robert Halver seinen beruflichen Werdegang zunächst als Wertpapieranalyst bei der Sparkasse Essen. Anschließend arbeitete er als Analyst und Aktienstratege bei der Privatbank Delbrück & Co in Frankfurt.

2001 wechselte Robert Halver zur Schweizer Privatbank Vontobel. Sein Aufgabenschwerpunkt war die Formulierung der Anlagestrategie der Vontobel Gruppe in Deutschland.

Seit 2008 leitet Herr Halver die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank AG in Frankfurt. In dieser Funktion ist er auch für die Außendarstellung der Baader Bank tätig.
Robert Halver ist durch regelmäßige Medienauftritte, auf Fachveranstaltungen und Anlegermessen sowie durch Fachpublikationen und als Kolumnist präsent.