Euro-Interview

Die Industrie bleibt der Politik gegenüber misstrauisch

04.04.11 06:00 Uhr

Martin Wittig, Chef der größten deutschen Strategieberatung Roland Berger, im Interview mit Euro über seinen Konjunkturoptimismus, Ex-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn und seine Geldanlagen.

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Roland-Berger-Chef Martin Wittig im Gespräch mit Mario Müller-Dofel, Euro.

Euro: Herr Wittig, Sie kennen viele deutsche Topmanager, beruflich wie privat. Was beschäftigt diese Leute zurzeit am meisten?
Martin Wittig:
Mehr denn je die makroökonomische Entwicklung über die nächsten zwei, drei Jahre. Die Unternehmensführer verfolgen trotz des aktuellen Konjunkturbooms in Deutschland gespannt, wie es mit der Eurokrise, der US-Konjunktur und der chinesischen Wirtschaft weitergeht. Das gilt auch für mich. Schließlich sind die Konjunkturzyklen heutzutage viel schwieriger vorhersehbar und zum Teil kürzer als früher.

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Wie wirken sich die Katastrophen in Japan auf deutsche Unternehmen aus?
Wittig:
Das seriös zu beantworten, ist wenige Tage nach dem Erdbeben und den Schäden in den Atomkraftwerken noch zu früh. Von Rückversicherern und stark in Japan engagierten Firmen abgesehen dürften sich die direkten Folgen aber zunächst in Grenzen halten. Denn nur etwas über ein Prozent deutscher Exporte geht nach Japan und drei Prozent deutscher Importe kommen von dort. Jetzt geht es darum, die humanitäre Katastrophe in den Griff zu bekommen. Unsere Mitarbeiter in Japan sind Gott sei Dank wohl auf. Auch unser Büro steht noch und wir halten Kontakt zu unseren Klienten vor Ort.

Trotz der Unsicherheiten in Japan wird 2011 ein gutes Jahr für die deutsche Wirtschaft. Zumindest ist das der Konsens unter Volkswirten. Aber das Jahr ist schnell vorbei. Welche Signale bekommen Sie von Ihren Kunden, wie es danach weitergeht?
Wittig:
Positive. Deshalb sind wir bei Roland Berger für die mittelfristige Entwicklung sogar optimistischer als viele Volkswirte und glauben, dass die deutsche Wirtschaft auch 2012 und 2013 je zwei bis drei Prozent zulegen kann.

Aber China drosselt sein Wachstum und der US-Aufschwung lässt auf sich warten.
Wittig:
Ich bin häufig in China. Und was ich da sehe, lässt mich nicht glauben, dass Chinas Wachstum signifikant sinkt. Selbst wenn es in den kommenden Jahren zwei Prozent niedriger ausfiele, wäre das wohl immer noch mehr als die Regierung offiziell ausweist, um Inflationssorgen zu dämpfen. 2010 etwa dürfte Chinas Wirtschaftswachstum eher bei 14 als bei den offiziellen elf Prozent gelegen haben. Meiner Ansicht nach bleibt das Land ein Treiber der Weltwirtschaft.

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Und die Vereinigten Staaten?
Wittig:
Die USA arbeiten sich langsamer aus der Krise, als wir es in der Vergangenheit gewohnt waren. Dennoch glaube ich, dass der Aufschwung dort bald kommt. Auch weil sich Präsident Obama etwas einfallen lassen muss, um 2012 wiedergewählt zu werden. Alles andere wäre für ihn eine Blamage.

Werden Sie von Ihren Kunden auch manchmal darüber ausgefragt, wie andere Kunden von Ihnen die Zukunft beurteilen?
Wittig:
Dazu befragen sie weniger mich, sondern mehr sich gegenseitig. Im Zuge der Finanzkrise haben sich sogar Vorstände konkurrierender Unternehmen vernetzt und reden deutlich offener miteinander als früher. Man ist kommunikativ zusammengerückt.

Wirklich? Vor einigen Monaten hat man doch die Industrie medienwirksam über die Banken schimpfen hören.
Wittig:
Meine Aussage gilt für die Industrie, nicht für die Banken. Zwischen diesen beiden Wirtschaftszweigen gibt es momentan durchaus Verwerfungen.

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Warum? Die Banken vergeben doch wieder reichlich Unternehmenskredite.
Wittig:
Ja, aber die Industrie musste nach ihrer Wahrnehmung mit der Finanzkrise fertig werden, obwohl nicht sie es war, die sie verursacht hat. Und sie muss mit der Eurokrise leben, obwohl sie auch für die nichts kann. Nach meinen Kenntnissen bleibt die Industrie den Banken, der Konjunktur, aber auch der Politik gegenüber misstrauisch.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, was Unternehmen zurzeit mit Ihrem Geld machen sollten und wie Roland Berger expandieren will.

Roland Berger-Chef Martin Wittig im Gespräch mit Mario Müller-Dofel, Euro.
Beraten Sie Unternehmen trotz der derzeitigen Hochkonjunktur auch schon wieder mit Strategien für die nächste Rezession?
Wittig:
Wir beraten vor allem im Hinblick auf Opportunitäten, in der Krise und im Boom. Nach jeder Krise kommt ein Aufschwung, auf den ein gutes Unternehmen ausgerichtet sein muss – und umgekehrt. Hätte beispielsweise der Chemiekonzern BASF nicht auch in früheren Krisen sein Asiengeschäft stark ausgebaut, wäre er heute nicht so stark wie er ist.

Haben Sie BASF beraten?
Wittig:
Kein Kommentar.

Deutsche Unternehmen verdienen zurzeit sehr gut und haben deshalb viel Geld in den Kassen. Was machen die damit?
Wittig:
Fusionen, Übernahmen und regionale Expansion sind die großen Themen.

Welche potenziellen Expansionsziele halten Sie für besonders interessant?
Wittig:
Südamerika, dort vor allem Brasilien. Aber auch Südostasien, etwa Indonesien und Malaysia, auch Vietnam.

Und wo sehen Sie die meiste Bewegung bei Fusionen und Übernahmen?
Wittig:
In der Finanzbranche. Viele Institute müssen ihre Geschäftsmodelle an neue Vorschriften anpassen und zugleich ihre Geschäftsrisiken senken.

Wird die Zahl der Banken zum Nachteil der Kunden schrumpfen?
Wittig:
Für vermögende Kunden kleinerer Privatbanken wohl nicht, weil die sehr umworben sind und eine gute Verhandlungsposition haben. Für Kunden im Massengeschäft könnte es bei der einen oder anderen Bank anders kommen. Doch es wird weiter genügend Möglichkeiten geben, das Institut zu wechseln, wenn man unzufrieden ist.

Welche Übernahme- und Expansionspläne haben Sie mit Roland Berger?
Wittig:
Übernahmepläne haben wir nicht, weil wir auf organisches Wachstum setzen. Das beinhaltet aber durchaus die Übernahme von Beraterteams aus dem Wettbewerb. Was die geografische Expansion angeht, hat Asien oberste Priorität. So wird China – gemessen an der Zahl der Berater – demnächst Frankreich als unseren zweitgrößten Zielmarkt nach Deutschland ablösen. In einigen Wochen werden wir in China 250 Consultants haben. Neue Märkte gibt es aber auch in südostasiatischen Ländern und Afrika.

Warum Afrika?
Wittig:
Weil auch hier die Wirtschaft wächst und afrikanische Länder für unsere Klienten zunehmend interessant werden. So arbeiten wir an Infrastrukturthemen in Angola und an Bankenprojekten in Nigeria und im Sudan.

Roland Berger ist längst nicht so groß wie McKinsey, der Weltmarktführer in der Beraterwelt. Ist das ein Problem für Sie?
Wittig:
Größe ist nicht das einzige Erfolgskriterium. Wir wollen zwar weiter wachsen. Aber in den meisten Ländern, in denen wir agieren, haben wir den Schwellenwert überschritten, den man braucht, um lieferfähig und gut im Geschäft zu sein.

Neben der Führung von Roland Berger beraten Sie auch selbst noch Kunden. Wie viele Flüge absolvieren Sie jährlich?
Wittig:
So um die 250.

Was erwarten die Kunden außer der immensen Mobilität von Beratern?
Wittig:
Objektivität, den nüchternen Blick von außen, Methoden zur Einführung neuer Strukturen und fundierte Kenntnisse über die jeweilige Branche. Heutzutage kann man nicht mehr einfach ein paar Generalisten zum Klienten schicken. Wir sind übrigens das erste große Beratungsunternehmen, das frühere Industriemanager in Beraterteams integriert. Wir stellen gezielt Praktiker aus der Industrie ein, auch wenn sie keine Erfahrung als klassischer Berater haben.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, warum Martin Wittig den früheren Deutsche-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn eingestellt hat und wie der Roland-Berger-Chef sein Geld anlegt.

Roland Berger-Chef Martin Wittig.
Was versprechen Sie sich von denen?
Wittig:
Noch mehr Wissen über industriespezifische Details. Diese Praktiker merken schnell, wenn Lösungsvorschläge von Teamkollegen für bestimmte Aufgaben zu theoretisch sind. Und vor allem haben sie eigene Managementerfahrung: Beim Umgang mit Kunden bauen sie schnell eine gewisse Nähe auf, weil sie von denen als frühere Kollegen respektiert werden.

Man stelle sich vor, da steht Ihre prominenteste Neuverpflichtung, der 68-jährige Ex-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn, vor halb so alten Beraterkarrieristen und sagt „So funktioniert das nicht“. Das muss doch zu Konflikten führen. Geht das wirklich gut?
Wittig:
Jedenfalls fast immer. Alle erkennen, dass sie voneinander profitieren. Hartmut Mehdorn zum Beispiel ist für uns eine echte Bereicherung, weil er eine unglaubliche Energie hat und kreative Ideen einbringt. Wir haben aber auch jüngere Praktiker verpflichtet: etwa einen ehemaligen Vermögensmanager einer Bank, einen strategischen Planer aus der Autoindustrie, den Ex-Vertriebschef eines Automobilkonzerns in Indien oder einen früheren Topmanager einer europäischen Fluglinie – alles Leute, die 35 bis 45 Jahre alt sind.

Roland Berger ist traditionell stark in der Restrukturierungsberatung. Ist dieses Geschäft nicht vor allem in der vergangenen Wirtschaftskrise gelaufen?
Wittig:
Richtig. Es wächst stark, wenn die Konjunktur nach unten geht. Deshalb sind wir relativ stabil durch das Krisenjahr 2009 gekommen. Aber es gibt auch immer Unternehmen, die in Hochkonjunkturphasen in Schieflage geraten – etwa durch Managementfehler oder verzögert zutage tretende Probleme aus Krisenzeiten.

Können Sie den Rückgang in der Restrukturierungsberatung ausgleichen?
Wittig:
Roland Berger lag in den ersten zwei Monaten des laufenden Jahres beim Umsatz 22 Prozent über dem Vorjahreszeitraum. Das dürfte die Frage beantworten.

Was sind Ihre Wachstumstreiber?
Wittig:
Zum Beispiel internationale Wachstumsprojekte für große Kunden und die Beratung von Kreditinstituten, die sich an neue Regeln anpassen müssen. Und wir sind stark im Bereich Unternehmensfinanzierungen, gerade beim deutschen Mittelstand. Hier geht es etwa um die Finanzierung von Fusionen und Übernahmen, aber auch um Beratung bei Bilanz- und Finanzierungsstrukturierungen.

Noch einige persönliche Fragen: Sie beraten seit 16 Jahren Unternehmen, wohnen im noblen Zürich und kennen auch deshalb viele reiche Menschen. Geht bei denen angesichts der Schuldenpolitik in vielen Ländern die Angst vor Inflation um?
Wittig:
Angst würde ich das nicht nennen. Aber teils Verunsicherung. In der Schweiz ist das allerdings weniger ausgeprägt, weil hier die Inflationserwartungen geringer sind als etwa in Deutschland und den USA. Andererseits sieht man zum Beispiel im Private Banking, dass weiterhin Geld aus Deutschland in die Schweiz fließt. Weniger aus steuerlichen Gründen, sondern vor allem, um Vermögen vor einer eventuellen steigenden Inflation in der Europäischen Union in Sicherheit zu bringen.

Auch Sie sind Vermögensmillionär. Wie haben Sie Ihr Geld angelegt?
Wittig:
Ich investiere konservativ und halte viel Cash. Die Aktienmärkte decke ich vor allem über ETFs ab, keine Einzelaktien. Zudem Gold und Immobilien.

Haben Sie einen Vermögensberater?
Wittig:
Ich habe einen Betreuer in einer Privatbank, der mir bei der Vermögensstrukturierung hilft. Aber vieles entscheide ich allein.

Sie sind Deutscher und bemühen sich um die Schweizer Staatsbürgerschaft. Haben Sie das Vertrauen in die Zukunft von Deutschland und der EU verloren?
Wittig:
Nein, ich behalte ja meinen deutschen Pass. Aber ich lebe seit zwölf Jahren in Zürich, meine Kinder sind in der Schweiz geboren. Die bekämen dann auch den Schweizer Pass und könnten sich später entscheiden, wo sie leben möchten. Übrigens schätze ich die Schweizer Basisdemokratie und nutze gern die Möglichkeit, über Abstimmungen mein Lebensumfeld zu beeinflussen. Das kann ich nur, wenn ich den Pass habe.

Was würden Sie in Zürich gern als erstes verändern?
Wittig:
Spontan: die Verkehrspolitik, weil Zürich inzwischen eine autofeindliche Stadt geworden ist.

Dann fahren Sie doch mit der Bahn.
Wittig:
Das mache ich ja oft innerhalb der Schweiz. Und wenn ich zum Beispiel in die Zürcher Bahnhofstraße muss, nehme ich meist die Tram. Da steht man nicht selten neben Wirtschaftsgrößen wie dem Chef der Bank UBS.

In der berühmten Bahnhofstraße gibt es jede Menge Geldinstitute. Besuchen Sie da ständig Ihren Privatbanker?
Wittig:
(lacht). Nein, da hat Roland Berger zum Glück auch gute Kunden.

Vita
Zufälliger Karrierestart
Martin Wittig, geboren am 20. Januar 1964, studierte Bergbauwissenschaften und Betriebswirtschaft in Aachen. Danach promovierte er in Berlin und arbeitete als Ingenieur unter anderem im Ausland. 1995 saß er auf einem Flug von Brasilien nach Deutschland zufällig neben Roland Berger, dem Chef und Gründer der gleichnamigen Unternehmensberatung. Berger fand Wittig gescheit und sympathisch – und stellte ihn ein. Bald danach begann Wittig, für Roland Berger von Zürich aus das Geschäft in der Schweiz aufzubauen. 2003 wurde er in die Geschäftsführung von Roland Berger berufen, deren Chef der 47-Jährige seit Mitte 2010 ist. Die fünftgrößte Strategieberatung der Welt ist in fast 30 Ländern aktiv und hat 2000 Mitarbeiter. Wittig lebt und arbeitet nach wie vor in Zürich. Der Hobbysportler, Literatur- und Kunstliebhaber ist verheiratet und hat neunjährige Zwillingssöhne.

Wittigs großer Förderer Diesem Mann hat Roland-Berger-Chef Martin Wittig seinen Einstieg bei Deutschlands größter Strategieberatung zu verdanken: Gründer Roland Berger selbst stellte ihn ein (siehe auch Vita links). Der heute 73-Jährige hatte das Unternehmen 1967 als Ein-Mann-Betrieb in München, wo sich heute noch der Hauptsitz befindet, gegründet. Sein erster großer Erfolg war die Idee zur Gründung des Reisekonzerns TUI. 1988 kaufte die Deutsche Bank 75,1 Prozent an der Beratungsfirma – für 100 Millionen Mark. 1997 stockte die Bank auf 95 Prozent auf. Nur ein Jahr später kauften Berger und seine Partner alle Anteile zurück. 2003 wechselte er in den Aufsichtsrat und überließ Burkhard Schwenker die Führung, auf den Wittig folgte. 2009 gründete Berger mit dem umstrittenen Ex-Arcandor-Chef Thomas Middelhoff eine Investmentfirma. Der Grandseigneur der Beraterbranche wird auch nach wie vor von Spitzenpolitikern und Institutionen um Rat gefragt.

Bildquellen: Stefan Baumgartner, Stefan Baumgartner