Gezeitenwende: Warum Aktienbesitz auch der Gesellschaft nutzt
Aktien sind bei Privatanlegern begehrt wie selten zuvor. Besonders erfreulich: Erstanleger scheinen anders als früher einen günstigen Zeitpunkt für den Einstieg ins Aktiensparen gefunden zu haben und dürften langfristig dabeibleiben.
von Carsten Mumm, Gastautor von Euro am Sonntag
Ein früher Einstieg in das Sparen mit Aktien insbesondere junger Anleger nützt nicht nur ihnen, sondern der Wirtschaft insgesamt - ein Effekt, der viel zu wenig Beachtung findet. Nach Angaben des Deutschen Aktieninstituts (DAI) hatten im Jahr 2021 in Deutschland 12,1 Millionen Menschen Aktien oder aktienbasierte Fonds beziehungsweise ETFs (börsengehandelte Indexfonds) im Depot. Gegenüber dem Vorjahr ist die Anzahl der Aktionärinnen und Aktionäre damit zwar leicht um 280.000 gesunken. Aufgrund des starken Anstiegs aus dem Jahr 2020 um 2,7 Millionen befindet sich der Wert aber noch immer nahe den Höchstständen des Jahres 2001 mit 12,9 Millionen Aktiensparern.
Und genau dieser Vergleich ist sehr bemerkenswert. Während vor rund 20 Jahren viele von der allgemeinen Euphorie des Internethypes erfasst wurden und - zumeist viel zu spät, also nahe den damaligen Höchstständen - ihre ersten Gehversuche an den Kapitalmärkten gewagt haben, scheint jetzt der Einstieg inmitten der Corona-Krise gelungen zu sein. Wer im Lauf des Jahres 2020 Aktien gekauft hat, dürfte heute über ordentliche Gewinne verfügen. Anders als nach dem Platzen der Internetaktienblase dürften Anleger sich heute im Nachhinein in ihrer Kapitalanlageentscheidung bestätigt sehen und den Börsen länger treu bleiben. Da der demografische Wandel in Deutschland die umlagefinanzierte Rente spätestens mit dem Eintritt der Babyboomer in den Ruhestand an Grenzen führt und gleichzeitig die verzinsliche Anlage angesichts verbreiteter negativer Realzinsen kaum noch ertragreich ist, wird die eigenverantwortliche kapitalgedeckte Vorsorge über eine Beteiligung am Produktivvermögen der Volkswirtschaft - etwa über Aktien - für den Ruhestand der heute jungen Menschen existenziell.
Dass sich Private am Kapitalmarkt verstärkt engagieren, hat aber noch weitere volkswirtschaftlich und gesellschaftlich relevante Vorteile. Fehlendes privates Investitionskapital hat in der Vergangenheit nur allzu oft dazu geführt, dass in Deutschland entwickelte, vielversprechende Innovationen im Ausland, vornehmlich in den USA, zur wirtschaftlichen Reife geführt wurden und zur Basis für den Aufstieg neuer Geschäftsbereiche oder ganzer Unternehmen wurden. Heute stehen Volkswirtschaften weltweit vor einschneidenden Transformationen, in denen es besonders darauf ankommt, innovative Ideen zu generieren und diese schnell zu tragfähigen Geschäftsmodellen weiterzuentwickeln.
Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge ist nötig
Die Dekarbonisierung der Produktion, der Mobilität und der Energieerzeugung wird ohne technologische Innovationen nicht umsetzbar sein. Dafür notwendige Schlüsseltechnologien aus dem Feld der Digitalisierung sind zum Beispiel künstliche Intelligenz oder Blockchain, die bestehende Produktionsverfahren in allen relevanten Segmenten, von der Industrie über den Handel bis zu Dienstleistern, massiv verändern werden. Wenn es gelingt, die in diesen Bereichen in Deutschland vielfach vorhandene wissenschaftliche Grundlagenforschung auch hier in eine skalierbare wirtschaftliche Nutzung zu überführen, wird die Wettbewerbsfähigkeit und die Resilienz des Wirtschaftsstandorts zur Bewältigung der anstehenden Herausforderungen entscheidend gestärkt.
Dabei geht es nicht nur um das zur Verfügung stehende Kapital. Vielmehr kann ein stärkeres Aktienengagement der Bürger einer Volkswirtschaft auch das Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge und für die notwendigen Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg schärfen, eine gerade in Deutschland wünschenswerte Entwicklung. Bei allen notwendigen Bemühungen um eine Vorreiterrolle in wichtigen Zukunftsthemen, wie etwa dem Klimaschutz, muss der Erhalt des wirtschaftlichen Potenzials der deutschen Volkswirtschaft eine wichtige einzuhaltende Nebenbedingung sein. Die überhastet eingeläutete Energiewende nach dem Atomunglück von Fukushima zeigt, dass man in komplexen Volkswirtschaften durchdachte Konzepte benötigt, um erwünschte Zielsetzungen ohne massive Kollateralschäden zu erreichen.
Man muss Menschen in die Lage versetzen, sich über Für und Wider wirtschaftspolitischer Entscheidungen ein Bild verschaffen zu können. Wer anhand der eigenen Aktienpositionen sehen kann, welche Auswirkungen politische oder regulatorische Entscheidungen auf die Zukunftsfähigkeit verschiedener Unternehmen und Branchen hat, erhält einen besseren Überblick über deren ganz unterschiedliche Wirkungsrichtungen. Es liegt also nicht nur im Interesse der Bürgerinnen und Bürger mit Blick auf ihre Altersvorsorge, sondern auch der Wirtschaft und der Politik, dass der inländische Aktienbesitz in Privathand unterstützt und ausgebaut wird.
Carsten Mumm
Chefvolkswirt Bankhaus Donner & Reuschel
Der Chartered Financial Analyst (CFA) ist seit 2017 Chefvolkswirt beim Bankhaus Donner & Reuschel. Sein Verantwortungsbereich umfasst die Erstellung von Konjunktur- und Kapitalmarktprognosen sowie die Analyse relevanter Entwicklungen des gesamten Kapitalmarktumfelds. Vorher verantwortete er den Bereich Asset Management und die Vermögensverwaltung des Hauses.
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