Politik: Europas Erosion
Was ist die aussichtsreichste Anlageregion weltweit? Europa, sagten viele Fondsmanager zu Jahresbeginn. Dann kam der Kursturz - und nun drohen obendrein mal wieder politische Zerreißproben.
von Andreas Höß, Euro am Sonntag
Befragte man vor Kurzem die wichtigsten Auguren der großen Finanzinstitute nach ihren favorisierten Anlageregionen, fiel regelmäßig ein Name: Europa. Dem europäischen Aktienindex Euro Stoxx 50 trauten sie bei einer Umfrage von €uro am Sonntag im Schnitt ein Plus von elf Prozent in diesem Jahr zu, dem US-Index S & P 500 nur sechs Prozent. Teilgenommen hatten bei der Umfrage damals Großbanken wie JP Morgan, die Deutsche Bank und die UBS, aber auch Landesbanken wie die LBBW oder die Helaba.
Und heute, nur sechs Wochen nach Jahresbeginn? Stehen Europas Börsen so stark unter Druck wie zuletzt auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise. Die Gründe des Ausverkaufs sind vielfältig und haben mit den Unsicherheiten über das globale Wachstum, die US-Geldpolitik, die Entwicklung in China und die Ölmärkte sowie mit aufkommenden Sorgen über die Stabilität des Finanzsystems zu tun. In dieser nebulösen Situation gewinnen zugleich aber Zweifel an der Handlungsfähigkeit und dem Fortbestand Europas erneut an Kontur.
Vor allem außerhalb Deutschlands bringt man die Finanzmarktturbulenzen auch mit den eher im Hintergrund schwelenden europäischen Problemen in Verbindung. Beispielsweise in Italien, wo das Bankensystem wieder stärker ins Wanken gerät und die Kursverluste an den Börsen zuletzt besonders hoch waren. "Das Krisenvirus ist wieder da", schrieb die liberal-konservative italienische Tageszeitung "Corriere della Sera" vergangene Woche. "Die Märkte tanzen wieder um die These, dass die Eurozone sich in mehr oder minder ferner Zukunft spalten wird."
Stürzt Europa also zurück in die Krise? Vielleicht, aber unter anderen Umständen als im Jahr 2011, als hohe Staatsschulden Investoren an der Zahlungsfähigkeit der Europäer zweifeln ließen. Auf EU-Ebene hält man die Lage jedenfalls für ernst. Man mache sich Sorgen um das europäische Projekt, so die Außenminister der EU-Gründungsstaaten Italien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, Belgien und Niederlande, die sich am Dienstag in Rom trafen. Die Union werde durch eine "Dreifachkrise" bedroht: die Folgen der Eurokrise, den möglichen EU-Ausstieg der Briten sowie den Streit um die Flüchtlingskrise. Auch Anleger sollten diese Themen im Blick behalten. Sie könnten "schwer für Ärger sorgen", warnt der Ökonom Nouriel Roubini von der Stern School of Business in New York. Europa drohe zum "Ground Zero der Geopolitik" zu werden.
Spaltungsängste
Schon kommende Woche könnten die Risiken realer werden. Am Donnerstag und Freitag trifft sich der Europäische Rat in Brüssel, dort will man sich laut Agenda auf eine "für alle Seiten zufriedenstellende" Reform der EU verständigen. Dabei geht es um Zugeständnisse, mit denen der britische Premier David Cameron seinen Bürgern den Verbleib in der EU schmackhaft machen möchte. Gibt es eine Einigung, könnten die Briten vielleicht schon im Juni darüber abstimmen, ob sie die EU verlassen.Das Ergebnis ist schwer zu prognostizieren, Befürworter und Gegner lagen in jüngsten Umfragen gleichauf. Dennoch belasten die Brexit-Sorgen die britische Börse seit Längerem. Denn klar ist: Das Votum ist bindend, egal wie es ausgeht. Und: Kehrt die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas der Union den Rücken, hätte das schwerwiegende Folgen. "Ein Brexit wäre für beide Seiten desaströs", sagt Bert Van Roosebeke vom Centrum für Europäische Politik.
Die damit verbundenen wirtschaftlichen Einbußen sind zwar bisher nicht seriös zu benennen, da unklar ist, unter welchem rechtlichen Rahmen Großbritannien mit der EU verbunden bliebe. "Die Folgen für den Finanzplatz London wären aber ohne Zweifel schmerzhaft. Und für die EU wäre ein Austritt der Briten mehr als peinlich", so van Roosebeke. In einer Situation, die immer stärker nach länderübergreifenden Lösungen verlange, verlöre die EU massiv an Bedeutung und an Glaubwürdigkeit. Zudem habe ein Brexit Vorbildcharakter. Auch die Finnen liebäugeln mit einem vergleichbaren Referendum über einen Fexit, und separatistische Bewegungen wie in Katalonien würden ebenfalls zusätzlichen Auftrieb erhalten.
Solche Aussichten machen Anleger nervös, die Kommentare der Großbanken und Analysten zum Thema Brexit häufen sich deshalb. Ein Brexit sei "für die Kapitalmärkte in Europa eines der größten politischen Risiken", teilt etwa die DZ Bank mit. Er könne auch den DAX unter Druck bringen.
Funktionskrise
Spannend wird das EU-Treffen kommende Woche auch aus einem anderen Grund: Die Flüchtlingskrise steht dort ebenfalls auf der Tagesordnung. Ausschlaggebend ist für die Finanzmärkte dabei weniger, wie viele Menschen nach Europa flüchten, ob sie kurzfristig für höheres Wachstum sorgen oder die Staatskassen langfristig eher be- oder entlasten. Entscheidender ist, ob sich Europa zu einer gemeinsamen Lösung durchringt.Danach sieht es im Moment nicht aus. "Ob man es hören will oder nicht, 2016 wird das Jahr sein, in dem die EU die Flüchtlingskrise unter Kontrolle bringt oder zerbricht", tönt der slowakische Ministerpräsident Roberto Fico. Im September wurde beschlossen, dass die Slowakei 802 Flüchtlinge aufnehmen soll, um Länder wie Griechenland zu entlasten. Fico klagt dagegen. Am Dienstag trifft er sich mit den Regierungschefs Ungarns, Polens und Tschechiens, allesamt Kritiker der deutschen Willkommenspolitik, um die Haltung für das Ratstreffen abzustimmen.
Der Umgang mit den Flüchtlingsströmen sei ein "tragisches Musterbeispiel" für die gefährliche Renationalisierung und die Funktionskrise in Europa, so der Ökonom Nouriel Roubini. Sichtbar wird das nicht zuletzt an den Grenzkontrollen, die plötzlich wieder zwischen Schengen-Staaten wie Deutschland und Österreich stattfinden. Die Wirtschaft sieht das als Problem und stemmt sich in Brüssel gegen ein Europa der Schlagbäume, das den Binnenhandel bremsen könnte. Laut einer Studie der regierungseigenen französischen Denkfabrik France Stratégie könnten Grenzkontrollen die Schengen-Staaten auf zehn Jahre gerechnet mehr als 100 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung kosten.
Der Streit setzt sich längst innerhalb der EU-Staaten fort - nicht nur in Deutschland, wo Angela Merkel in der Gunst der Wähler deutlich gesunken ist und sich selbst Teile der CDU und der CSU an die Demontage der Kanzlerin machen. Populisten wie der deutschen AfD oder dem französischen Front National spielt das in die Hände. Worauf sie zählen können, ist eine wieder wachsende Europa-Müdigkeit. Nur noch etwas mehr als ein Drittel der Europäer haben ein positives Bild von der EU, fast ein Viertel dagegen ein negatives, hat eine Umfrage der EU-Kommission ergeben. Mehr als die Hälfte der Befragten hält das Thema Einwanderung für das größte Problem Europas.
Gleichzeitig kämpfen die Europäer immer noch mit den Folgen der Schuldenkrise. Sie hat in der Wirtschaft tiefe Spuren hinterlassen. Und sie hat die politische Landschaft verändert. In Polen gab es einen Rechtsruck, in Griechenland regieren Linkspopulisten mit Rechtspopulisten, in Portugal ist eine Linkskoalition auf Stimmen der Kommunisten angewiesen. Und in Spanien gibt es auch mehr als 50 Tage nach der Parlamentswahl keine Regierung, die Sozialisten loten dort gerade aus, ob sie mit der Protestpartei Podemos koalieren können.
Finanzstress
Diese wachsende politische Instabilität droht die wirtschaftliche Erholung der vergangenen Jahre zu bremsen. Das fürchtet zumindest die EU-Kommission. Sie bescheinigt etwa Spanien grundsätzlich sehr gute wirtschaftliche Aussichten, das Land hatte sich zuletzt vom Krisenstaat zur Wirtschaftslokomotive des Kontinents gewandelt. Den guten Ausblick stellt sie aber unter Vorbehalt. Eine politische Hängepartie oder ein radikaler Politikwechsel könne die Erfolge zunichtemachen. Auch die Einschätzungen zu Portugal klingen vorsichtiger als noch vor einigen Monaten.Investoren scheinen die Risiken ebenfalls wieder höher einzuschätzen. Seit die Linksregierung in Lissabon an der Macht ist und Reformen rückgängig macht, sind die Kurse der Staatsanleihen aus Portugal abgerutscht und die Renditen gestiegen (siehe Grafik links). Dass erste Großanleger befürchten, das Land könne den Investment- Grade-Status verlieren und damit aus dem Anleihekaufprogramm der EZB fliegen, hat den Prozess beschleunigt. Das macht neue Schulden für Portugal teurer. Ähnlich ist es in Griechenland, das seit Monaten über die Auszahlung von Hilfsgeldern verhandelt und dessen Finanzlage nach wie vor unübersichtlich und kritisch ist. Seit Langem zugesagte Reformen, etwa im Rentensystem, lassen weiter auf sich warten, weshalb die ursprünglich für Herbst 2015 angepeilte Überprüfung der Geldgeber bis heute andauert. Geht es so weiter, werden wieder Debatten über eine Pleite des Landes aufkommen. Die Renditen für zehnjährige Staatsanleihen sind schon auf rund elf Prozent gestiegen, während sie in Deutschland Richtung null sinken.
Erlebt die Zweiteilung zwischen europäischen Kernstaaten wie Deutschland und Peripheriestaaten wie Griechenland nun eine Renaissance? Zumindest in Teilen sieht das so aus, übrigens auch an den Aktienmärkten. Dort hat zwar auch der deutsche DAX kräftig Federn gelassen, die Börsen in Italien oder Griechenland sind aber noch tiefer im Minus. Die Kunden der UBS haben in den letzten Wochen so viele Wertpapiere aus Italien verkauft wie noch nie, meldet die Großbank. Und Griechenlands Aktienmarkt ist insgesamt weniger wert als einzelne DAX-Konzerne wie BMW.
Mit schuld daran ist die Krise der Banken. Laut einer Schätzung sitzen allein die italienischen Banken wegen der jahrelangen Wirtschaftskrise des Landes auf 350 Milliarden Euro an faulen und riskanten Krediten. Dass nun Furcht um die Wirtschaft und die Finanzmärkte aufkommt, macht die Sache noch heikler - wenngleich sich die EU und Italien vor Kurzem auf die Gründung einer Bad Bank geeinigt hatten, in die ein Teil der Not leidenden Kredite ausgelagert werden soll. Die Preise für Versicherungen, mit denen sich Investoren gegen Kreditausfälle italienischer Banken absichern, sind in kürzester Zeit in Höhen geschossen, die sie zuvor nur nach langem Anlauf auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise erreicht hatten.
Restoptimismus
Doch trotz - oder sogar wegen - der heftigen Kursverluste gehen einige Profis offenbar davon aus, dass sich die düsteren Wolken wieder verziehen. So gaben in einer Umfrage der Bank of America Merrill Lynch von Ende Januar die meisten der 240 befragten Fondsmanager zwar an, ihre Aktienquoten zuletzt deutlich gesenkt zu haben. Europa und Japan, wo die Geldpolitik gelockert statt gestrafft wird, nannten sie jedoch weiter als ihre favorisierten Märkte.Zuversichtlich ist auch Steffen Merker, der für die LBBW Misch- und Aktienfonds managt. Die Panik an den Börsen hält er für eine Chance: Die Diskrepanz zwischen der Stimmung am Markt und der guten wirtschaftlichen Entwicklung in Europa sei beachtlich, "das sind Übertreibungsphasen, in denen es in der Vergangenheit die besten Kaufgelegenheiten gab. Und verglichen mit den anderen Regionen der Welt ist Europa im Moment die bessere Wahl." Denn während in den USA und Asien das Wirtschaftswachstum nachgebe, lege es in Europa zu. Das Gewinnwachstum der Konzerne auf dem Kontinent schätzt Merker in diesem Jahr auf sechs bis acht Prozent und damit deutlich höher ein als jenes in den USA. Zudem seien auch die Bewertungen der Aktien im Vergleich niedriger und durch die extremen Kursverluste abermals gesunken. Länder wie Spanien, Italien oder Frankreich hätten größeres Aufholpotenzial als Deutschland.
Und die politischen Risiken? Für Merker lediglich Alltagsgeschäft. Krisen habe es in Europa in den vergangenen Jahren immer gegeben. "Erst vor genau einem Jahr stand Griechenland unmittelbar vor der Pleite und dem Euro-Rauswurf. Die politische Unsicherheit ist zum ständigen Begleiter geworden", so der Fondsmanager. "Wir haben gelernt, damit zu leben."
Investor-Info
Peripherie-Staatsanleihen
Die Renditen steigen wieder
Anleger sehen wieder größere Risiken bei den Anleihen mancher Peripheriestaaten. Die Kurse portugiesischer Staatsanleihen brachen ein, die Renditen stiegen im Gegenzug. Die Rendite zehnjähriger griechischer Papiere stieg sogar auf elf Prozent, im Herbst lag sie noch bei sieben Prozent. Staatsanleihen aus Spanien und Italien blieben dagegen stabil.
Kreditausfallversicherungen
Explosionsartig verteuert
Papiere, mit denen sich Anleger gegen Bankenpleiten absichern, haben sich extrem verteuert. Bei einzelnen italienischen Banken waren die Bewegungen besonders drastisch. So zahlen Investoren, die sich über fünf Jahre gegen einen Ausfall von Nachranganleihen der italienischen Bank Monte dei Paschi di Siena versichern, mittlerweile mehr als auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise.
Stoxx Europe Banks Short ETF
Wette gegen Europas Banken
"Europas Bankensektor hängt in den Seilen und jeder darf darauf einprügeln", zitierte der Nachrichtensender ntv am Donnerstag einen Analysten. Tatsächlich sind Banken derzeit am stärksten unter Druck. Sollte der Ausverkauf an den Börsen weitergehen und die Ängste vor einer Systemkrise steigen, dürfte das so bleiben - und ein ETF gut abschneiden, der von fallenden Bankkursen in Europa profitiert. Aber Vorsicht: Hellt sich die Stimmung auf, drohen hohe Verluste.Weitere News
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