China am Scheideweg: Reformen müssen her!
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Die kommunistische Führung in China sitzt in der Zwickmühle. Will sie eine Stagnation des Wachstums verhindern, muss sie weitere Reformen einleiten.
von Alex Wolf, Gastautor von Euro am Sonntag
Nur wenige Monate nachdem sinkende Wachstumsraten für Panik an den Märkten gesorgt hatten, erholte sich die chinesische Wirtschaft wieder und verbuchte in drei aufeinanderfolgenden Quartalen ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 6,7 Prozent. Das ist selbst für chinesische Verhältnisse eine beeindruckende Stetigkeit. Jetzt rechnen die meisten Analysten damit, dass die Wirtschaftstätigkeit bis zum Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im nächsten Jahr stabil bleibt. Doch wie ist es um die langfristige Entwicklung Chinas bestellt? Folgt sie überhaupt einem kohärenten Wirtschaftsplan?
In der Vergangenheit hat die chinesische Führungsriege immer mit weitreichenden Reformen auf Konjunkturabkühlungen reagiert. Die heutigen chinesischen Spitzenpolitiker haben den Untergang der Sowjetunion genau studiert; Xi Jinping hat versprochen, die Fehler von Michail Gorbatschow nicht zu wiederholen. Die Lektion, die sie gelernt haben, besteht darin, dass wirtschaftliche Reformen wichtiger sind als politische Reformen. Ihrer Ansicht nach machte Gorbatschow den Fehler, politische Reformen durchzuführen, bevor seine Regierung der Bevölkerung Wirtschaftswachstum und bessere Lebensstandards bieten konnte.
Die privaten Investitionen
in China sind eingebrochen
Diese Sichtweise - politische Legitimität aus Wohlstand, wirtschaftlichen Chancen und Stabilität statt aus demokratischen Wahlen zu ziehen - bestimmt die chinesische Innen- und Außenpolitik. Im Anschluss an die Tian’anmen-Demonstrationen und den Fall der Berliner Mauer hat Chinas Staatsführung nicht mit politischen und wirtschaftlichen Repressalien reagiert, sondern mit Reformen und einer Öffnung des Landes. Sie beschloss, Marktreformen zu verstärken und den Markt weiter zu liberalisieren.
Es sieht so aus, dass diese Bemühungen nun ins Stocken geraten sind. Seit Hu Jintao und Wen Jiabao 2002 an die Macht gekommen sind, wurden die Bemühungen zur Stärkung marktwirtschaftlicher Faktoren in der Wirtschaft weitgehend eingestellt. Staatseigene Unternehmen sind größer geworden und haben an Einfluss gewonnen, und viele Sektoren bleiben privaten Investitionen weiterhin verschlossen. Unter Xi Jinping haben sich diese Trends noch verstärkt. Staatseigene Unternehmen fusionieren, um "nationale Champions" zu bilden, die auf dem Weltmarkt mithalten können. Die privaten Investitionen sind aufgrund eines Mangels an attraktiven Anlagegelegenheiten und wegen unfairer Rahmenbedingungen jedoch eingebrochen.
Somit beobachten wir derzeit eine Abkehr von der früheren chinesischen Tradition, mit progressiven Reformen auf Konjunkturabkühlungen zu reagieren. Anstatt das Wachstum durch marktbasierte Reformen zu fördern, verlässt sich die derzeitige Regierung auf eine Kombination aus politischen Repressalien sowie altmodischen finanz- und geldpolitischen Maßnahmen zur Ankurbelung des Wachstums. Dies kann zweifellos nicht ewig so weitergehen - die Kreditvergabe kann nicht ewig schneller wachsen als die Gesamtwirtschaft, und ein Land kann nicht einfach nur immer mehr Straßen bauen.
Die Frage ist, wie die chinesische Staatsführung reagieren wird, wenn die Kreditvergabe nachlässt und Infrastrukturprojekte an ihre physischen Grenzen geraten - und welche Auswirkungen dies haben wird. Und umgekehrt stellt sich die Frage, wie sich die wirtschaftliche Liberalisierung auf den Machterhalt der Partei auswirken würde, falls die notwendigen Reformen zur Steigerung der Produktivität durchgeführt würden.
Um die Wirtschaft verstärkt auf Dienstleistungen und Konsum auszurichten, müssen neue Antriebsfaktoren für das Wachstum gefunden werden. Diese Neuausrichtung der Wirtschaft hat Fortschritte gemacht - der Anteil der Fertigungsindustrie am BIP ist zurückgegangen, und sowohl der Dienstleistungssektor als auch der Gesamtkonsum haben zugelegt. Dieser Trend wird jedoch wahrscheinlich nachlassen. Bei den Anreizmaßnahmen lag der Schwerpunkt in jüngster Zeit verstärkt auf Wohnungsbau- und Infrastrukturinvestitionen; die Kreditvergabe erfolgte überwiegend an träge staatseigene Unternehmen statt an dynamische Privatunternehmen.
Darüber hinaus ist es nicht einfach, diesen Prozess des Rebalancing über eine zentral geführte Regierungspolitik zu steuern. Neben dem Wachstum der Verschuldung verfügen die politischen Entscheidungsträger kaum über Hebel, die sie einfach ansetzen könnten. Und höhere Verschuldung geht durchaus mit Risiken einher.
Der Anteil der Haushaltseinkommen würde am einfachsten steigen, wenn die Löhne schneller steigen würden als das BIP, was zu einer Neuausrichtung des Volksvermögens weg von den Unternehmen und vom Staat hin zu den privaten Haushalten führen würde. Da die meisten neuen Arbeitsplätze jedoch von Privatunternehmen geschaffen werden, hängen die Einkommen weitgehend von den Marktkräften ab. Seit 2012 ist eine gewisse Verschiebung hin zu den privaten Haushalten erfolgt; die Löhne sind nicht so schnell gefallen wie das nominelle BIP und sie steigen nunmehr parallel zum BIP-Wachstum. Wenn das Wachstum wie von uns erwartet weiter zurückgeht, die Löhne dabei aber stabil bleiben, kann auch der Anteil des Konsums an der Gesamtwirtschaft allmählich zulegen.
Die Abhängigkeit von den Sektoren des alten Chinas einschließlich der Fertigungsindustrie, Immobilien und Rohstoffe unterstreicht jedoch die Schwierigkeiten einer Neuausrichtung.
Angst vor Zusammenbruch
des Kommunismus
Die Herausforderungen werden die chinesischen Spitzenpolitiker also zu harten Entscheidungen zwingen. Eigentlich müssten sie wie ihre Vorgänger in der Vergangenheit reagieren: mit Offenheit und Reformen. Damit riskieren sie jedoch, die Kontrolle zu verlieren. Wie Gorbatschow kann kein chinesischer Politiker genau vorhersagen, welche Reform den Zusammenbruch des Kommunismus in China auslösen könnte. Deshalb ist es für die Führungsriege in Peking verlockend, erst einmal nichts zu tun.
Um die Wirtschaft neu auszurichten und sich der Konjunkturabkühlung, dem Raubbau an der Umwelt und einem historischen demografischen Wandel zu stellen, muss China Reformen vornehmen, die den Machterhalt der Kommunistischen Partei gefährden könnten. Wir können nur abwarten, welchen Weg das Land einschlagen wird.
Kurzvita
Alex Wolf, Volkswirt
Standard Life Investments
Wolf ist seit Ende 2014 Volkswirt für die Emerging Markets beim britischen Investmenthaus Standard Life Investments. Er kam vom U.S. State Department, dem er acht Jahre lang als Diplomat in Peking und Taipeh gedient hatte. Zuvor war er im Finanzsektor bei BAE Systems und Lehman Brothers tätig.
Standard Life Investments ist mit einem verwalteten Vermögen von rund 323 Milliarden Euro eines der großen europäischen Investmenthäuser.
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