Euro am Sonntag-Interview

Risiko-Experte Gigerenzer: Wir brauchen eine neue Fehlerkultur

10.06.13 03:00 Uhr

Der renommierte ­Psychologe Gerd Gigerenzer über falsche Vorhersagen, einfache Anlageregeln und naive Truthähne.

von Andreas Höß, Euro am Sonntag

Er berät Konzernvorstände, Notenbanker und Regierun­gen: Gerd Gigerenzer ist ­einer der führenden Risikoexperten weltweit. In einem futuristisch verschachtelten Betonbau der Max-Planck-Gesellschaft im Berliner Villenviertel Dahlem erforscht der Psychologe, wie Menschen entscheiden und wie sie mit Unwägbarkeiten, Risiken und Gefahren umgehen. Unter seinen bevorzugten Unter­suchungsobjekten: Banker.

Es ist Mittag, und Gigerenzer hat schon eine Unisitzung und mehrere Interviews hinter sich. Trotzdem ist er bestens gelaunt, als er mit einer Finanzzeitschrift in der Hand in sein Büro führt, dessen Regale mit Büchern über Psychologie und Wissenschaftsgeschichte vollgestellt sind.

€uro am Sonntag: Herr Gigerenzer, Sie haben da eine Zeitschrift über Fonds dabei. Interessieren Sie sich sehr für Finanzmärkte?
Gerd Gigerenzer:
Das bringt der Beruf so mit sich. Wer über Risiko forscht, kommt an Banken und Börsen gar nicht vorbei.

Analysten stellen Sie in Ihrem neuen Buch „Risiko“ ein schlechtes Zeugnis aus.
Ja, manche Prognosen sind in etwa so treffend, wie wenn ein Schimpanse Dartpfeile wirft.

Woher kommt das harte Urteil?
Nehmen wir als Beispiel den Wechselkurs von Euro zum US-Dollar, den Banken jeden Dezember für das Ende des folgenden Jahres vorhersagen. Ich habe mir die Jahresprognosen der größten Banken der Welt aus den Jahren 2000 bis 2010 angesehen. Das Ergebnis: Das können Sie auch. Die Streuung der Vorhersagen war beträchtlich, sie variierte um 20  bis 25 Cent. Trotzdem lag der tatsächliche Wechselkurs meistens außerhalb des von den Analysten vorhergesagten Bereichs. Aktienprogno­sen sind übrigens ähnlich gut.

Woran liegt das? Banken holen sich bekanntlich die besten Leute.
Trotzdem tun sie immer das Gleiche: Ist der Wechselkurs gestiegen, prognostizieren sie meist, dass er weiter steigt. Ist er gefallen, gehen sie davon aus, dass er fällt. So verpassen sie alle Trendwenden.

Wieso achten dann so viele ­Menschen auf diese Prognosen?
Dafür gibt es zwei Erklärungen. Die erste: Man weiß nicht, wie schlecht die Vorhersagen sind. Die zweite: Man weiß es, will aber Verantwortung abschieben. Falls etwas schiefgeht, kann man sagen: Die Deutsche Bank hat das aber so prognostiziert.

Man versteckt sich hinter ­Experten?
Das ist eine generelle Entwicklung in unserer Gesellschaft, die mir Sorgen macht — egal ob bei Banken, Unternehmen oder in der Politik. Ein Arzt ordnet zum Beispiel möglicherweise eine überflüssige Operation an, nur um juristisch nicht angreifbar zu sein. In der Wissenschaft nennen wir das „defensive Entscheidungen“. Sie können zulasten des Patienten, des Kunden oder des Wählers gehen. Außerdem verhindern sie Innovation und kosten Unsummen an Geld.

Solche Entscheidungen sind aber nicht der Regelfall, oder?
Ich habe Manager großer Konzerne gefragt, wie häufig sie Entscheidungen treffen, die nicht das Beste für das Unternehmen sind, aber sie aus der Schusslinie bringen, falls etwas schiefgeht. Wollen Sie schätzen, wie häufig solche Entscheidungen sind?

Schwierig. Zwei von zehn?
Zu niedrig. Drei bis vier von zehn. Und das ist noch die Selbstauskunft.

Was kann man dagegen tun?
Wir brauchen eine andere Fehlerkultur. Wer einen Fehler macht, sollte nicht damit rechnen müssen, sofort verklagt oder bestraft zu werden. Ein Vorbild sind hier die Fluggesellschaften. Sie melden Fehler wie Beinahezusammenstöße an eine zentrale Stelle, sodass andere daraus lernen können.

Von der Finanzbranche heißt es, sie habe nicht aus ihren Fehlern g­elernt. Sehen Sie das auch so?
Teilweise. Viele Banken berechnen etwa ihre Kapitalanforderungen noch immer mit Value-at-Risk-Modellen. Diese haben jede Krise übersehen. Sie funktionieren nur, wenn nichts Überraschendes passiert.

Was ist die Alternative? Noch ausgeklügeltere Rechenmodelle?
Es heißt oft, Finanzmärkte seien wie ein Kasino. Es wäre schön, wenn das so wäre. Man hätte Glück und Pech, könnte aber wie beim Roulette Wahrscheinlichkeiten berechnen. Leider ist die Finanzwelt aber voller Ungewissheiten.

Und dort stoßen Rechenmodelle an ihre Grenzen?
Wahrscheinlichkeitsmodelle geben hier nur eine Illusion von Sicherheit. Der Autor Nassim Taleb nennt das eine „Truthahn-Illusion“: Je öfter ein Bauer einen Truthahn füttert, desto eher glaubt der Truthahn, dass der Bauer immer Futter bringt, wenn er auftaucht. Am Tag vor Thanksgiving muss er dann auf eine bittere Art herausfinden, dass ihm eine Information fehlte.

Ist das der Grund, weshalb wir von Krise zu Krise stolpern?
Die Risikomodelle haben regelmäßig versagt. Wie dem Truthahn fehlen ihnen wichtige Informationen. Das Ausmaß der Finanzkrise von 2008 hat so gut wie niemand vorhergesehen, weil man unter anderem die Dominoeffekte unterschätzt hat, die durch die Globalisierung der Finanzmärkte aufgetreten sind.

Sie beraten auch Banken. Wie ­reagieren diese, wenn sie mit Ihren Ergebnissen konfrontiert werden?
Es ist für manche ein Anstoß, einmal zu reflektieren, was man tut, welche Gefahren man in Kauf nimmt und was die Alternativen wären. Aber meist geht es dann mit einem Schulterzucken weiter wie zuvor.

Was macht das System stabiler?
Es heißt, komplexe Systeme brauchen immer komplexe Regeln. Das ist falsch. Je komplizierter es wird, desto weiter kommt man mit ein­fachen Faustregeln, die wir Heuristiken nennen. Ich suche zusammen mit der Bank of England nach Al­ternativen, um das Finanzsystem sicherer zu machen. Ihr Chef Mervyn King schlägt vor, dass Banken keinen höheren Fremdkapitalhebel als zehn zu eins haben dürfen. Das könnte eine Regel sein, um mehr ­Sicherheit ins System zu bringen.

Können auch Privatanleger auf ­bestimmte Faustregeln setzen?
Ja. Jeder Anleger ist gut beraten, Finanzprodukte zu meiden, die er nicht versteht. Oft sind das strukturierte Produkte oder komplizierte Zertifikate. Sie machen die Welt nicht risikoloser, sondern riskanter, wie die Finanzkrise gezeigt hat.

Wie sollte man sein Geld anlegen?
Auf jeden Fall nicht alles in einen Korb legen. Aber auch beim Diversifizieren gibt es verschiedene Herangehensweisen. Die erste: Man benutzt die Portfoliotheorie, für die Harry Markowitz einen Nobelpreis bekommen hat. Das ist ein kompliziertes Rechenmodell, für das man sehr große Datenmengen braucht.

Und die zweite?
Man trifft Entscheidungen mit einer einfachen Faustregel: Eins durch N. Sagen wir, Sie haben drei Anlageklassen zur Auswahl: Aktien, Anleihen und Immobilien. Dann streuen Sie Ihr Vermögen (Eins) gleichmäßig auf alle drei Klassen (N).

Das klingt simpel.
Ist es auch. Selbst Markowitz hat diese Faustregel seiner Portfolio­theorie vorgezogen, als er Geld fürs Alter angelegt hat. Studien haben gezeigt, dass diese Art zu streuen in vielen Fällen erfolgreicher ist als die Portfoliotheorie, die anfällig für Schätzfehler ist. Für N = 50 brauchte man etwa 500 Jahre Aktiendaten, damit Markowitz besser als die 1/N-Methode wird. Das heißt, erst im Jahr 2500 sollten sich komplexe Berechnungen auszahlen — vorausgesetzt, es gibt die gleichen Aktien und den Aktienmarkt dann noch. Vorher gilt: Weniger ist mehr.

Ist es immer sinnvoll, sich auf Faustregeln zu verlassen?
Das ist die zentrale Frage. Eine stabile Welt ist berechenbar. Je größer aber die Informationsfülle und je komplexer und unwägbarer die Welt, desto mehr Annahmen und Schätzungen sind nötig. Dann macht es mehr Sinn, seine Entscheidungen mit guten Faustregeln zu treffen.

Risiken sind mit Ängsten verbunden. Wovor zittern wir am meisten?
Das hängt von der Person und ihrem kulturellen Hintergrund und vom Blickwinkel ab. Mich erinnert das an ein Weihnachten in den USA. Ein amerikanischer Freund fand es leichtsinnig, dass ich einen Baum mit echten Wachskerzen gekauft hatte. Er sagte, ich würde das Leben meiner Familie aufs Spiel setzen. Unter seinem mit elektrischen Kerzen beleuchteten Baum zeigte er mir stolz das Geschenk für seinen 16-jährigen Sohn. Es handelte sich um eine Winchester.

zur Person:

Der Halbwissende
Gerd Gigerenzer, Jahrgang 1947, studierte in München Psychologie und lehrte unter anderem in Salzburg und Chicago. Seit 1997 ist er Direktor des Center for Adaptive Behavior and Cognition am MPI für Bildungsforschung, seit 2009 steht er dem Harding Zentrum für Risikokompetenz vor. Gigerenzer hat verschiedene Forschungs- und Buchpreise gewonnen. Er ist der Meinung, dass gesundes Halbwissen und Faustregeln oft komplexe Modelle schlagen. Im März von ihm erschienen: „Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“.