Türkei: An der Widerstandslinie
Die Börse hat von Konjunktur-Maßnahmen profitiert. Nun aber ist das Kurspotenzial erschöpft, die Risiken wachsen. Zeit, Gewinne mitzunehmen.
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von Jörg Billina, Euro am Sonntag
Adalet heißt Gerechtigkeit. Es ist die Botschaft, die Zehntausende Türken unter Führung des Oppositionspolitikers Kemal Kilicdaroglu auf ihrem Marsch von Ankara nach Istanbul in die Welt geschickt haben. Ihre Proteste richten sich gegen Recep Tayyip Erdogan.
Der Staatspräsident hat nach dem gescheiterten Putschversuch der Armee vor genau einem Jahr den Notstand verhängt. Damit sind wesentliche Grundrechte außer Kraft gesetzt. Doch Massenentlassungen im öffentlichen Dienst, Zehntausende Menschen im Gefängnis, darunter Journalisten wie Deniz Yücel, sowie massive Einschränkungen der Pressefreiheit und der Rechtsstaatlichkeit wollen immer mehr Türken nicht mehr hinnehmen. Völlig auszuschließen ist es nicht, dass der per Dekret regierende Erdogan und seine AKP-Partei die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im November 2019 verlieren.
Erdogan weiß: Um an der Macht zu bleiben, muss auch die Wirtschaft kräftig wachsen und die Arbeitslosigkeit sinken. Im April waren 11,7 Prozent der Erwerbstätigen ohne Job. Die Regierung lässt nichts unversucht. Sie hat die Investitionsausgaben erhöht und auch die staatlichen Löhne angehoben. In der Folge legte im ersten Quartal 2017 das Bruttoinlandsprodukt um fünf Prozent zu.
Auf Jahressicht hält der Internationale Währungsfonds allerdings nur 2,5 Prozent für möglich. Erdogan ist das zu wenig. Seinen Ministern hat er daher Anweisung erteilt, bis Ende des Jahres jeweils 180-Tage-Pläne auszuarbeiten, die der Konjunktur im kommenden Jahr mehr Dynamik verleihen sollen. Auch jeder Wirtschaftsakteur müsse seinen Beitrag für mehr Wachstum leisten, fordert Erdogan.
Dazu zählt er insbesondere die Geschäftsbanken. Sie sollen mehr Kredite zu deutlich günstigeren Konditionen vergeben. Für den Fall, dass sie der Aufforderung nicht nachkommen, hat ihnen Ministerpräsident Binali Yildirim Strafen angedroht. Die Institute leiden jedoch bereits unter höheren Refinanzierungskosten für in Dollar aufgelegte Anleihen infolge von Ratingverschlechterungen und einer schwachen Lira.
Also üben Erdogan und die Regierung auch Druck auf die Zentralbank aus. Hohe Zinsen verhinderten Investitionen und neue Jobs, lässt der Staatspräsident den Notenbankchef wissen. Bislang aber hat sich Murat Çetinkaya nicht einschüchtern lassen. Im Juni beließ er den Leitzins bei acht Prozent und verwies auf die hohe Inflation. Die Teuerungsrate in dem Monat betrug 10,9 Prozent. Zielwert der Notenbank sind aber fünf Prozent. Der Preisanstieg dürfte im Lauf des Jahres jedoch kaum einstellig ausfallen.
Allzeithoch in Istanbul
Aufgrund der Stimulierungsmaßnahmen hat sich die Börse in Istanbul bislang gut entwickelt. Allein in den vergangenen sechs Monaten legte der Leitindex ISE 100 um rund 34 Prozent zu und durchbrach im Juni erstmals die Marke von 100.000 Punkten. Nach dem starken Anstieg gibt es jedoch Zweifel, ob der Trend anhält.
BNP Paribas hat türkische Aktien jüngst von "Neutral" auf "Negativ" herabgestuft. Das globale Zinsumfeld verändere sich zulasten der Türkei, begründet die Bank ihre Einschätzung. Das könnte Investoren motivieren, Kapital vom Bosporus abzuziehen und sich in anderen Schwellenländern zu engagieren.
In der Vergangenheit haben Anleger sich immer wieder schnell und dann auch massiv verabschiedet. Die wieder steigenden innen- wie außenpolitischen Risiken sprechen ebenfalls für einen rechtzeitigen Ausstieg vor einer möglichen kräftigen Korrektur.
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