Brexit: Die Zeit läuft ab!
Ende März 2019 verlässt Großbritannien die EU. Die Verhandlungen über die Modalitäten des Austritts stocken. Eine radikale Trennung wird wahrscheinlicher.
Werte in diesem Artikel
von Jörg Billina, €uro am Sonntag
Jeden Morgen entsteigen den U-Bahn-Stationen rund um die City und die Canary Wharf Tausende von Menschen. Schnellen Schrittes suchen sie die Büros in den hoch aufragenden Türmen der über 250 in London ansässigen Geldhäuser auf. Jobs in Europas Finanzzentrum sind gut bezahlt. Dennoch ist die Stimmung gedrückt. 75.000 Arbeitsplätze drohen wegzufallen, sollten sich die EU und Großbritannien nicht doch noch auf ein Brexit-Abkommen verständigen.
Die Unsicherheit über die politische und wirtschaftliche Zukunft des Inselstaats gefällt auch den Investoren nicht. Laut einem Report der Bank of America Merill Lynch stehen britische Aktien auf der Kaufliste global anlegender Fondsmanager ganz unten. Angesichts der immer knapper werdenden Zeit für eine Lösung dürfte sich das Sentiment weiterhin verschlechtern. Dem Leitindex FTSE 100 droht eine Talfahrt.
Immerhin verständigten sich Brüssel und London auf eine Übergangsphase nach dem für den 29. März 2019 terminierten Austritt Großbritanniens aus der EU. Sie gilt bis Ende 2020. Bis dahin kommt das Königreich seinen finanziellen Verpflichtungen nach und hat weiterhin Zugang zum Binnenmarkt. Dieser garantiert den ungehinderten Austausch von Waren und Dienstleistungen. Ebenso können Banken weiterhin ohne Einschränkung ihre Geldgeschäfte mit der EU tätigen. Während der Übergangsphase wollen die Union und London ihre künftige Beziehung klären.
Die Übergangsphase tritt allerdings nur dann in Kraft, wenn sich die Brexit-Unterhändler zuvor auf ein umfassendes Austrittsabkommen verständigt haben. "Nichts ist vereinbart, wenn nicht alles vereinbart ist", stellt EU-Chefunterhändler Michel Barnier klar.
Derzeit sieht es nicht nach einer umfassenden Lösung aus. Die Verhandlungen zwischen Brüssel und London über den von den britischen Bürgern im Referendum vom 23. Juni 2016 mehrheitlich zum Ausdruck gebrachten Wunsch, der EU den Rücken zu kehren, kommen nicht voran. Scheitert der Einigungsversuch, droht ein harter Brexit. Großbritannien würde den Zugang zum EU-Binnenmarkt verlieren. Die bislang noch geltende Zollunion wäre auf einen Schlag beendet. Beide Seiten müssten sich auf ein neues Handelsabkommen einigen. Bis dieses ausgehandelt wäre und in Kraft treten könnte, dürften Jahre vergehen. In der Zwischenzeit hätte Großbritannien den gleichen Handelsstatus wie die Mongolei, folgert Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags.
Im Falle eines harten Brexit im März 2019 würden auch die in London ansässigen Banken ihr Recht verlieren, EU-weit zu operieren. Das wäre "eine Katastrophe", wird Londons Bürgermeister Sadiq Khan nicht müde zu warnen. Dass sie tatsächlich eintreten kann, scheinen die Institute zu verdrängen. Die Europäische Bankenaufsicht EBA schlägt deshalb Alarm: Ihrer Einschätzung nach sind Londons Banken auf eine radikale Trennung Großbritanniens von der EU "völlig unzureichend" vorbereitet.
Tiefer Graben
Was eine Einigung zwischen Brüssel und London so erschwert: Die von Theresa May geführte britische Regierung ist in der Brexit-Frage gespalten. Hardliner wie Außenminister Boris Johnson wollen den klaren, sauberen Bruch. Großbritannien spare sich dann die Zahlungen an Brüssel, sei nicht mehr der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterworfen und könne seine eigene Immigrationspolitik formulieren, so die Argumentation. London hätte dann auch das Recht, mit anderen Staaten wie den USA oder China Freihandelshandelsabkommen zu schließen. Innerhalb der Zollunion geht das nicht. Diese verlangt von allen Mitgliedern einheitliche Außenzölle gegenüber Nicht-EU-Staaten.
Schatzkanzler Philip Hammond dagegen macht sich für den weichen Brexit stark. Großbritannien soll seiner Meinung nach wie Norwegen eine Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum anstreben. Großbritannien müsse dann weniger Geld nach Brüssel überweisen, habe aber weiterhin Zugang zum Binnenmarkt. Im Gegenzug müsse Großbritannien jedoch EU-Gesetze in nationales Recht überführen, an denen es gar nicht mitgewirkt hätte. Für die Hardliner kommt diese Lösung nicht infrage.
Theresa May - die selbst einen Brexit mit den geringstmöglichen Schäden für die britische Wirtschaft anstrebt, einen "Soft Brexit" - versucht derweil, ihr Kabinett auf Linie zu bringen. Am Montag will sie eine rund 100 Seiten umfassende Brexit-Stellungnahme veröffentlichen, die alle offenen Fragen klären soll. Mit besonderer Spannung wird Mays Lösungsvorschlag für die künftige Gestaltung der Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem zum Königreich gehörenden Nordirland erwartet.
Ist Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU, müssten eigentlich an den bislang völlig offenen Übergängen zwischen Nordirland und Irland alle Personen und Waren von Grenzbeamten kontrolliert werden. In London, Dublin und Belfast aber fürchtet man, dass dies den alten Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten erneut entfachen könnte. Die Einigung auf eine offene Grenze sei Voraussetzung für die 1998 getroffene Friedenslösung gewesen, erinnert der frühere Premier Tony Blair.
Im britischen Nordirland, das mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt hatte, steigt gleichzeitig die Angst vor den wirtschaftlichen Konsequenzen eines harten Brexit. Studien zufolge drohen der Region massive Wachstumseinbußen. 56 Prozent aller nordirischen Exporte nimmt die EU ab. Die Hoffnung, dass Nordirland einen Sonderstatus eingeräumt bekommt und als Teil des dann Nicht-EU-Mitglieds Großbritanniens im Binnenmarkt verbleiben kann, hat kaum Aussicht, sich zu erfüllen.
Um die Hardliner doch noch auf einen weichen Brexit einzustimmen, melden sich derzeit Unternehmen und Industrieverbände mit bislang nicht gekannter Deutlichkeit zu Wort. Airbus kündigte für den Fall einer Nichteinigung zwischen EU und London die eventuelle Schließung seiner Produktionsstätten an. Konkrete Zahlen nennt der Autokonzern Jaguar Land Rover. Bisher fest eingeplante langfristige Investitionen in Höhe von 80 Milliarden Pfund stehen bei einem schlechten Verhandlungsergebnis zur Disposition.
Ein düsteres Szenario malt auch Paul Drechsler, Chef der Confederation of British Industry: "Fällt die Zollunion weg, droht mehreren Sektoren des herstellenden Gewerbes der Untergang." Die Verluste ließen sich nicht durch Freihandelsabkommen mit anderen Ländern kompensieren: "Das ist ein Aberglaube."
Investor-Info
Brexit
Folgenschweres Votum
Am 23. Juni 2016 stimmten die Bürger Großbritanniens für den Brexit. Der Austritt aus der EU erfolgt am 29. März 2019. Zu welchen Bedingungen das Vereinigte Königreich und die EU danach Waren und Dienstleistungen tauschen, hängt vom Ausgang der laufenden Verhandlungen ab. Gibt es keine Einigung, scheidet Großbritannien aus der Zollunion aus. Auf UK-Produkte würde die EU dann Zölle nach den Regeln der Welthandelsorganisation erheben. Unter der damit einhergehenden Verteuerung dürfte die Nachfrage deutlich leiden. 43 Prozent aller UK-Exporte gehen in EU-Staaten. Zudem drohen bisher in Großbritannien angesiedelte Unternehmen mit der Schließung ihrer Produktionsstätten und der Kürzung geplanter Investitionen.
SPDR FTSE UK All Share
Inselrisiko
Mit dem von State Street Global Advisors aufgelegten ETF partizipieren Investoren an der Wertentwicklung von 601 in Großbritannien ansässigen Unternehmen. Auf Finanzwerte wie HSBC entfallen 26 Prozent, Aktien aus der Öl- und Gasbranche sind mit 14 Prozent im Index vertreten. Trotz der Stärke vieler Unternehmen lastet die Brexit-Unsicherheit auf den Kursen. Bei einem unkontrollierten Austritt drohen nachhaltige Verluste.
ISIN: IE00B7452L46
Metzler European Growth
Inselchance
Heiko Veit und Sebastian Junk investieren breit in europäische Werte. In UK-Unternehmen haben sie 15 Prozent investiert. Sollte es zu einem weichen Brexit kommen, dürfte der Fonds von dann wahrscheinlichen Kurssteigerungen in London profitieren. Bei einem harten Brexit fallen UK-bedingte Verluste nicht zu sehr ins Gewicht. Die beiden Manager haben ihren Job gut gemacht, auf Sicht von fünf Jahren legte der Fonds um 65 Prozent zu.
ISIN: IE0002921868
_____________________
Weitere News
Bildquellen: Ailisa / Shutterstock.com, Samot / Shutterstock.com