EU und USA einig: Neue Sanktionen gegen Russland kommen - EU-Sanktionen auch gegen Putin und Lawrow - Russland überreicht Verhandlungsangebot
Die russische Armee ist bei ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine bis in die Hauptstadt Kiew vorgedrungen.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba berichtete von "schrecklichen russischen Raketenangriffen" auf die Millionenstadt. Russland machte der Ukraine am Freitag laut Kreml ein Angebot für mögliche Friedensverhandlungen in der belarussischen Hauptstadt Minsk.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte dem russischen Staatschef Wladimir Putin zuvor zwei Mal ein Treffen angeboten. Moskau habe den Vorschlag zu Verhandlungen über einen neutralen Status der Ukraine als Schritt in die richtige Richtung aufgenommen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Freitagnachmittag.
Die Nato kündigte unterdessen die Verlegung ihrer schnellen Einsatztruppe NRF an. Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am Freitag nach einem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs der 30 Bündnisstaaten nicht, wohin die Einheiten verlegt werden. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur könnten Bodentruppen in das südwestlich der Ukraine gelegene Rumänien geschickt werden. Ohnehin geplant ist, NRF-Einheiten zu einer Übung in das an Russland grenzende Nato-Land Norwegen zu entsenden.
Zur rund 40 000 Soldaten zählenden NRF gehört zum Beispiel die auch "Speerspitze" genannte VJTF, die derzeit von Frankreich geführt wird. Deutschland stellt nach Angaben aus der Vorwoche für die schnellste Eingreiftruppe des Bündnisses derzeit rund 750 Kräfte.
Russland hatte nach monatelangem Truppenaufmarsch an den Grenzen zur Ukraine am Donnerstag eine Offensive gestartet. Seit Beginn der großangelegten Invasion wurden auf ukrainischer Seite nach offiziellen Angaben mehr als 130 Soldaten getötet. Der Einmarsch löste weltweit Wut und Bestürzung aus.
Während Panzer in die ehemalige Sowjetrepublik vorstießen, gab es Luftangriffe im ganzen Land. In mehreren großen Städten, darunter Kiew, flüchteten die Menschen zum Schutz auch in U-Bahnhöfe. Ukrainische Truppen rückten in Kiew ein, um die Hauptstadt zu verteidigen. In der Metropole heulten mehrfach die Sirenen, wie ein Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur berichtete.
In der Region Kiew wurden nach offiziellen Angaben vier Menschen bei einem Luftangriff getötet und 15 verletzt. Auf Videos in den sozialen Netzwerken sind Kämpfe in einem Wohnviertel im Norden von Kiew zu sehen. Die Bilder zeigen unter anderem, wie ein Panzer ein Auto überrollt, dessen Insasse anschließend gerettet wird. Aus Charkiw im Osten des Landes berichteten Medien und Anwohner von Explosionen. Bei Cherson im Süden durchbrachen russische Truppen die ukrainischen Verteidigungslinien und überquerten den Dnipro.
Präsident Selenskyj sagte, in der ukrainischen Armee seien am ersten Tag der Invasion 137 Soldaten getötet und 316 Soldaten verletzt worden. Die Russen machten entgegen ihrer Zusicherung keinen Unterschied zwischen militärischen Zielen und Wohnhäusern, sagte er. Zugleich hielt er dem Westen mangelnde Unterstützung vor: "Wir verteidigen unseren Staat allein. Die mächtigsten Kräfte der Welt schauen aus der Ferne zu."
Nach ukrainischen Angaben erlitten die russischen Truppen ihrerseits schwere Verluste. Bisher hätten die einrückenden Truppen 2800 Soldaten "verloren", teilte das Verteidigungsministerium in Kiew am Freitagnachmittag mit. Dabei war unklar, ob es sich um getötete, verwundete oder gefangene Soldaten handeln soll. Russland setzte nach eigenen Angaben 118 ukrainische Militärobjekte "außer Gefecht" und schoss fünf ukrainische Kampfflugzeuge und einen Hubschrauber ab. Alle Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Einem russischen Militärsprecher zufolge eroberten die Russen das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl, knapp 70 Kilometer von Kiew entfernt. Spezialisten eines ukrainischen Wachbataillons seien aber nach Absprache weiter im Einsatz. Es gebe keine Auffälligkeiten, die radioaktiven Werte seien normal. Hingegen teilte die zuständige ukrainische Behörde mit, sie messe deutlich erhöhte Strahlenwerte.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind in der Ukraine schon 100 000 Menschen auf der Flucht. Die UN rechnen mit bis zu vier Millionen Flüchtlingen, sollte sich die Situation weiter verschlechtern. Laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR flohen bereits Tausende in Nachbarländer. Die Ukraine hat etwa 42 Millionen Einwohner.
Rund um den Globus gingen Demonstranten aus Solidarität auf die Straße. Gebäude und Monumente wurden in den blau-gelben Farben der ukrainischen Flagge beleuchtet. In Deutschland sind für das Wochenende Kundgebungen in mehreren Städten angekündigt, unter anderem in Berlin. Auch in Russland gab es zahlreiche Proteste. Dabei wurden Bürgerrechtlern zufolge mehr als 1700 Menschen festgenommen.
Die EU und die USA belegten Russland mit verschärften Sanktionen, verzichteten aber noch auf härteste Strafmaßnahmen. Die EU setzte auch Putin persönlich und Außenminister Sergej Lawrow auf ihre Sanktionsliste. Strafmaßnahmen der EU gibt es auch mit Blick auf Energie, Finanzen und Transport. Zudem soll es Exportkontrollen für bestimmte Produkte sowie Einschränkungen bei der Visavergabe geben.
Auch Großbritannien verhängte Sanktionen gegen Putin und Lawrow. Grund für den Schritt sei die "revanchistische Mission" Putins und Lawrows, mit der sie die Weltordnung nach dem Kalten Krieg durch den Angriff auf die Ukraine beseitigen wollten, wie Premier Boris Johnson sagte. Er warnte die Nato-Staats- und Regierungschefs bei ihrer Videoschalte der Mitteilung zufolge, dass Putins Absichten möglicherweise über die Invasion in die Ukraine hinausgehen könnten.
Der Kreml verteidigte seinen Militäreinsatz gegen weltweite Kritik. Außenminister Lawrow sagte, der Zweck des Einsatzes sei eine "Entmilitarisierung und Entnazifizierung" und fügte an: "Niemand wird die Ukraine besetzen." Der Kreml behauptet seit Jahren, 2014 hätten aus dem Ausland gesteuerte "Faschisten" in Kiew einen Staatsstreich herbeigeführt.
Putin rief die ukrainische Armee zum Kampf gegen die Regierung auf. "Nehmt die Macht in eure eigenen Hände! Es dürfte für uns leichter sein, uns mit Ihnen zu einigen, als mit dieser Bande von Drogenabhängigen und Neonazis, die sich in Kiew niedergelassen hat und das gesamte ukrainische Volk als Geisel genommen hat", sagte Putin. Er lobte das Vorgehen der russischen Armee.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte den Angriff als eklatanten Bruch des Völkerrechts angeprangert. Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einer "tiefgreifenden Zäsur in der Geschichte Europas nach dem Ende des Kalten Krieges". Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier appellierte an Putin: "Stoppen Sie den Wahnsinn dieses Krieges. Jetzt!" Außenministerin Annalena Baerbock nannte das Gesprächsangebot des Kreml an die Ukraine ein "vergiftetes Angebot". Deshalb hätten die EU-Außenminister in Brüssel gar nicht darüber gesprochen, sagte sie in einem ARD-"Brennpunkt".
Die Staats- und Regierungschefs der 30 Nato-Staaten bekräftigten bei einem Sondergipfel nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ihre feste Entschlossenheit zur kollektiven Verteidigung der Alliierten. "Unser Bekenntnis zu Artikel 5 des Vertrags von Washington ist unerschütterlich. Wir stehen zum Schutz und zur Verteidigung aller Verbündeten zusammen", hieß es am Freitag in der gemeinsamen Abschlusserklärung eines Nato-Sondergipfels. "Wir werden tun, was notwendig ist, um jeden Verbündeten und jedes Stück Nato-Gebiet zu beschützen und zu verteidigen", sagte Generalsekretär Soltenberg.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte nach einem Krisengipfel in Brüssel: "Unsere Einigkeit ist unsere Stärke." Mehrere Staats- und Regierungschefs forderten aber härtere Strafen, auch mit Blick auf das Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift. Ein Swift-Ausschluss hätte zur Folge, dass russische Institute quasi vom globalen Finanzsystem ausgeschlossen würden.
Nach EU will auch US-Regierung Sanktionen gegen Putin verhängen
Nach der Europäischen Union und Großbritannien will auch die US-Regierung Sanktionen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und Außenminister Sergej Lawrow verhängen. Auch weitere Mitglieder der russischen Führung würden betroffen sein, sagte US-Präsident Joe Bidens Sprecherin, Jen Psaki, am Freitag. Die Entscheidung sei in enger Abstimmung mit den Verbündeten in der EU gefallen, sagte Psaki im Weißen Haus.
Einzelheiten zu den Sanktionen würden noch im Laufe des Nachmittags (Ortszeit) bekanntgegeben, sagte sie weiter. Bei den meisten US-Sanktionen, die sich auf bestimmte Personen oder Firmen beziehen, wird jeglicher möglicher Besitz in den USA eingefroren. US-Bürgern und Firmen ist es dann weitgehend verboten, mit ihnen Geschäfte einzugehen oder sie finanziell zu unterstützen.
Falls die Betroffenen gar kein Vermögen in den USA haben - was bei Putin und Lawrow sehr wahrscheinlich erscheint - haben die Sanktionen trotzdem nicht nur eine symbolische Bedeutung. Sie erschweren den betroffenen Personen oder Firmen viele internationalen Geschäfte, weil westliche Banken und Unternehmen nicht riskieren wollen, gegen US-Sanktionen zu verstoßen.
Die US-Regierung hatte nach dem Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine am Donnerstag bereits weitreichende Sanktionen verhängt, unter anderem gegen die wichtigsten russischen Banken und Staatskonzerne sowie Exportkontrollen für Hightech-Produkte.
US-Präsident Joe Biden hatte dabei betont, die Sanktionen könnten bei einer weiteren Eskalation der Lage in der Ostukraine nochmals verschärft werden. Auf Nachfrage hatte er Sanktionen gegen Putin ausdrücklich nicht ausgeschlossen.
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, schrieb am Abend im Nachrichtenkanal Telegram, Putin und Lawrow hätten keine Konten in Großbritannien oder in Übersee.
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MOSKAU/KIEW/BRÜSSEL (dpa-AFX)
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