Gesetz gegen No-Deal-Brexit in Kraft getreten - Bercow kündigt Rücktritt an - Neuwahlpläne geplatzt
Nach dem gescheiterten Neuwahlantrag von Premier Boris Johnson können die Briten frühestens im November über ein neues Parlament abstimmen.
Das Unterhaus, das inzwischen in einer fünfwöchigen Zwangspause ist, verwehrte Johnson in der Nacht zum Dienstag erneut die für eine vorgezogene Wahl nötige Zweidrittelmehrheit.
Beobachter sehen Johnson dennoch bereits im Wahlkampfmodus. Nur wenige Stunden nach einer dramatischen Nacht im Parlament leitete er am Dienstag eine Kabinettssitzung im Regierungssitz Downing Street. Dabei ging es einem Bericht zufolge um innenpolitische Themen, bei denen Johnson bereits viel Geld versprochen hat, etwa den nationalen Gesundheitsdienst (NHS).
Die Opposition ist grundsätzlich für eine Neuwahl, will aber sicherstellen, dass der Brexit-Verfechter Johnson nicht doch noch einen EU-Austritt des Landes ohne Abkommen durchsetzt.
Spekulationen zufolge will sich Johnson bei einer Parlamentswahl als Verfechter des im Referendum zum Ausdruck gebrachten Volkswillens inszenieren, der gegen das proeuropäische Establishment kämpft.
Johnsons Chefberater Dominic Cummings empfahl wartenden Journalisten am Morgen vor seinem Haus in der britischen Hauptstadt: "Kommen Sie aus London heraus und sprechen mit Menschen, die keine reichen Brexit-Gegner sind." Der ehemalige Leiter der Brexit-Kampagne "Vote Leave" aus dem Referendumswahlkampf 2016 gilt als Kopf hinter der kompromisslosen Brexit-Strategie des Regierungschefs.
Eine vorgezogene Neuwahl kann frühestens im November stattfinden, weil während der fünfwöchigen Zwangspause kein entsprechender Beschluss des Parlaments gefasst werden kann. Zwischen Auflösung des Unterhauses und dem Wahltermin müssen zudem 25 Werktage liegen.
Bei der Abschlusszeremonie des Parlaments war es am frühen Dienstagmorgen zu tumultartigen Szenen gekommen: Abgeordnete der Opposition hielten Protestnoten mit der Aufschrift "zum Schweigen gebracht" hoch und skandierten "Schande über euch" in Richtung der Regierungsfraktion. Parlamentspräsident John Bercow sprach von einem "Akt exekutiver Ermächtigung".
Labour-Chef Jeremy Corbyn warf Johnson vor, er schließe das Parlament, um keine Rechenschaft mehr ablegen zu müssen. Die Abgeordneten sollen erst am 14. Oktober wieder zusammentreten. Gegen die Zwangspause sind noch mehrere Gerichtsverfahren anhängig. Das oberste britische Gericht, der Supreme Court, soll sich am 17. September mit der Causa befassen.
Johnsons Antrag auf eine vorgezogene Neuwahl hatte die nötige Zweidrittelmehrheit im Unterhaus mit 293 von 650 Stimmen zuvor klar verfehlt. Es war bereits der zweite Anlauf. Die Abgeordneten stimmten zudem unter anderem für die Herausgabe von Regierungsdokumenten und interner Kommunikation zur Planung für einen No-Deal-Brexit und zu der von Johnson auferlegten Zwangspause. Für Johnson war es die sechste Niederlage im Unterhaus binnen sechs Tagen. Gewonnen hat er bislang keine einzige.
Bercow - der Präsident des Unterhauses, der in Großbritannien Sprecher genannt wird - hatte angekündigt, am 31. Oktober von seinem Amt zurückzutreten. "Während meiner Zeit als Sprecher habe ich versucht, die relative Autorität dieses Parlaments zu erhöhen, wofür ich mich absolut bei niemandem, nirgendwo, zu keiner Zeit entschuldigen werde", sagte Bercow in einer emotionalen Ansprache. Viele Abgeordnete würdigten ihn mit langem Applaus, in der Regierungsfraktion war der Zuspruch eher verhalten.
Bercow hatte im Brexit-Machtkampf zwischen der Regierung und dem Parlament eine herausragende Rolle gespielt. Erst vergangene Woche ermöglichte er der Opposition und Rebellen aus der Tory-Fraktion, ein Gesetzgebungsverfahren gegen den Willen der Regierung einzuleiten.
Das am Montag in Kraft getretene Gesetz zwingt den Premierminister, eine Brexit-Verschiebung zu beantragen, sollte nicht rechtzeitig vor dem geplanten Austrittsdatum am 31. Oktober ein Abkommen mit der EU unter Dach und Fach sein. Johnson lehnt das jedoch strikt ab. "Diese Regierung wird keine weitere Verzögerung des Brexits zulassen", hatte er in der Nacht zum Dienstag gesagt.
Wie Johnson das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit umgehen will, ist unklar. Er bekräftigte zwar seinen Willen, mit einem Abkommen aus der EU auszutreten, doch wartet Brüssel bislang vergebens auf entsprechende Vorschläge aus London.
Bei einem Besuch in Dublin am Montag hatte Johnson einen möglichen EU-Austritt ohne Abkommen als "Scheitern der Staatskunst" bezeichnet. Spekulationen zufolge könnte die Regierung auch versuchen, ein Schlupfloch in dem Gesetz zu finden. Denkbar wäre auch ein Rücktritt Johnsons. Einem Bericht zufolge kündigte Johnson bei der Kabinettssitzung am Montag an, er werde seine Vorgehensweise erst publik machen, wenn mehr Zeit verstrichen ist.
Sträuben dürfte sich die Regierung auch gegen die Forderung des Unterhauses nach Herausgabe von Dokumenten. Dabei geht es um die Planungen für einen No-Deal-Brexit und die Zwangspause des Parlaments. Die Abgeordneten wollen die Kommunikation von Regierungsmitarbeitern vor der Entscheidung sehen, bis hin zu privaten Emails und Nachrichten aus Kurznachrichtendiensten.
Einzelne an die Presse durchgesickerte Dokumente aus der No-Deal-Planung hatten Schlagzeilen gemacht, weil sie nahelegen, dass die Regierung die befürchteten Konsequenzen herunterspielt. Direkte Zwangsmittel, um seine Forderung durchzusetzen, hat das suspendierte Unterhaus jedoch nicht.
Johnson fordert von der EU, dass der sogenannte Backstop aus dem EU-Austrittsabkommen gestrichen wird. Die von Brüssel und Dublin geforderte Garantieklausel sieht vor, dass Kontrollposten an der Grenze zu Nordirland nach dem Brexit vermieden werden. Denn das könnte den alten Konflikt zwischen katholischen Befürwortern einer Vereinigung Irlands und protestantischen Loyalisten wieder schüren. Bis eine andere Lösung gefunden wird, sollen für Nordirland weiter einige Regeln des Binnenmarkts gelten und ganz Großbritannien in der Europäischen Zollunion bleiben. Das lehnt Johnson jedoch strikt ab. Er sieht im Backstop ein "Instrument der Einkerkerung" Großbritanniens im Orbit der EU.
Wie wackelig der Frieden in Nordirland ist, wurde am Montagabend deutlich, als es in der Grenzstadt Londonderry zu heftigen Ausschreitungen kam. Dutzende Polizisten seien von einer Menschenmenge mit etwa 40 Molotow-Cocktails und anderen Wurfgeschossen angegriffen worden, teilte die Polizei mit. Zu der Straßenschlacht kam es, als etwa 80 Polizisten ein Wohnviertel nach Baumaterial für Bomben durchsuchen wollten. Mindestens zwei Jugendliche zogen sich Brandverletzungen zu, die Polizisten erlitten keinen Schaden. Mehrere Familien mussten vorübergehend in Sicherheit gebracht werden, wie britische Medien am Dienstag berichteten.
Mitglieder des Europaparlaments wollen sich am Mittwoch auf den Entwurf einer Brexit-Resolution verständigen und diese nächste Woche verabschieden. Am Donnerstag informiert EU-Chefunterhändler Michel Barnier die Fraktionsvorsitzenden des Parlaments über den Stand der Gespräche mit London.
Durch Bercows Rücktritt vor einer Neuwahl ist es dem aktuellen Parlament überlassen, seine Nachfolge zu regeln. Da die Johnson-Regierung keine Mehrheit hat, dürfte sie wieder mit einem für sie unangenehmen Parlamentspräsidenten konfrontiert werden.
/si/DP/jsl
LONDON (dpa-AFX)
Weitere News
Bildquellen: Miriam Doerr / Shutterstock.com, nito / Shutterstock.com