Börse Frankfurt-News: "Ratgeber-Overkill kontra Portfolio-Diversifikation
FRANKFURT (DEUTSCHE-BOERSE AG) - Nachdem Anlegerinnen und Anleger im ersten Halbjahr von den Kapitalmärkten reichlich verwöhnt wurden, zeigt der "heiße Herbst", wie wichtig es ist, sich der eigenen Prioritäten klar zu sein und den vielen Sirenengesängen der Experten zu widerstehen.
23. Oktober 2023. FRANKFURT (envestor). Nichts ist einfacher zu investieren, wenn es an den Märkten gut läuft. Im ersten Halbjahr 2023 war alles perfekt: Anleihen und Aktien - alles stieg, die allermeisten Wertpapier-Portfolios zeigten saftig grüne Pluszeichen an.
Nichts ist ätzender, wenn die Märkte nicht laufen. Seit zwei, drei Monaten ist erkennbar der Wurm drin - Aktien und Anleihen fallen, die allermeisten Wertpapier-Portfolios zeigen tiefrote Minus-Zeichen an. Das ist an sich schon nervig. Mitunter kann aber in solchen Marktphasen eines noch mehr nerven: der Rat von Experten - den tatsächlichen wie den vermeintlichen.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Kapitalmarkt-, Fonds-, Sentiment-Analysen und volkswirtschaftliches Research sind wichtig. Wer investiert, sollte sich über die Grundlagen und Rahmenbedingungen der Märkte informieren. Wir leben in einer komplexen Welt, und Expertenwissen ist essentiell, um das eigene Portfolio langfristig aufzustellen.
Was Anleger aber nicht brauchen, sind die Sirenengesänge von Produktverkäufern, die kurzfristige Marktbewegungen nutzen, um ihre ETFs, Fonds oder anderen Finanzinstrumente an die Frau und den Mann zu bringen. Denn eines haben diese Akteure nicht im Blick: unser Portfolio, das idealerweise unsere ganz speziellen finanziellen Bedürfnisse widerspiegelt.
So kann etwa der Ratschlag, jetzt stärker in günstige Substanzwerte (Value-Aktien) zu investieren, furchtbar nach hinten losgehen, wenn sich die Konjunktur anschickt, in den Keller zu rauschen. Dann verlieren zyklische Aktien stärker als Aktien mit stabilen Bilanzen, die in der Regel hohe Bewertungen aufweisen (Quality-Aktien). Längerfristig mag es sinnvoll sein, günstige Aktien teuren vorzuziehen, aber da mutmaßlich 50 Prozent der Anlegerportfolios von der Generation 60+ gehalten werden, kann derartiger Rat Anlegerinnen und Anleger teuer zu stehen kommen, die absehbar auf ihr Kapital zugreifen müssen. Weil kein Experte die finanziellen Notwendigkeiten der einzelnen Anleger kennt, kann auch wohlmeinender Rat, der unreflektiert umgesetzt wird, zu schweren Portfolio-Havarien führen.
Sogar wohlmeinende Einschätzungen von neutralen Stellen, etwa Verbraucherportalen, können Anlegern einen Bärendienst erweisen, wenn sie auf kurzfristige Marktbewegungen abzielen. Anleger sollten die Faustregel beachten: Je stärker ein Ratschlag auf kurzfristige Entwicklung abhebt, desto weniger Relevanz wird er für langfristige Portfolios besitzen. Viele Anlegerhistorien sind gesäumt von den Trümmern taktisch ausgerichteter Portfolios, die mitunter erst durch Expertenratschläge auf die schiefe Bahn geraten sind.
von: Ali Masarwah, 23. Oktober 2023, © envestor.de
Ali Masarwah ist Fondsanalyst und Geschäftsführer von envestor.de, eine der wenigen Fondsplattform, die Cashbacks auf Fonds-Vertriebsgebühren zahlt. Masarwah analysiert sich seit über 20 Jahren Märkte, Fonds und ETFs, zuletzt als Analyst beim Research-Haus Morningstar. Seine Expertise wird auch von zahlreichen Finanzmedien im deutschsprachigen Raum geschätzt.
(Für den Inhalt der Kolumne ist allein Deutsche Börse AG verantwortlich. Die Beiträge sind keine Aufforderung zum Kauf und Verkauf von Wertpapieren oder anderen Vermögenswerten.)