Finanzielle Repression findet bereits statt
Gemäß dem „Vertrag über die Arbeitsweise der EuropäischenUnion“ (AEUV) sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs...
... zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen diesen und Ländern außerhalb der Europäischen Union verboten. Artikel 66 des AEUV lässt jedoch die Möglichkeit offen, Kapitalbewegungen unter außergewöhnlichen Umständen einzuschränken. Wird Europa tatsächlich auf diese „Route 66“ einscheren? Oder allgemeiner formuliert: Werden die europäischen Behörden angesichts der anhaltenden Schuldenkrise an den Finanzmärkten intervenieren und damit den Marktpreis für Geld verzerren? Wird die finanzielle Repression in den kommenden Jahren an den Kapitalmärkten das beherrschende Thema sein, nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten, die ebenfalls unter einer hohen öffentlichen Verschuldung leiden?
Finanzielle Repression in der Vergangenheit
Der Begriff ‚finanzielle Repression‘ wurde in der Wirtschaftsliteratur erstmals 1973 von McKinnon und Shaw verwendet und bezeichnet wirtschaftspolitische Maßnahmen, Regulierungsvorschriften und Kapitalverkehrskontrollen, die dem Finanzsystem von Regierungen und Zentralbanken auferlegt werden und die Finanzmarktpreise nach unten verzerren. Häufig, aber nicht immer, werden Maßnahmen der finanziellen Repression eingesetzt, um einen Schuldenabbau der öffentlichen Hand zu erleichtern. Heute wäre dies sicherlich der offensichtlichste Anreiz für eine staatliche Intervention an den Finanzmärkten. Wie Reinhart und Sbrancia in ihrer Studie „The Liquidation of Government Debt“ (2011) darlegten, haben Regierungen in der Vergangenheit häufig finanzielle Repression mit einer niedrigen Dosis von Inflationsüberraschungen und damit einem höheren nominalen BIP-Wachstum kombiniert, um ihre Schuldenquote (Staatsschulden in Relation zum BIP) zu senken. Ein echter Staatsbankrott oder eine hohe Inflation zum Zwecke des öffentlichen Schuldenabbaus erregen zwar größere Aufmerksamkeit die finanzielle Repression war aber in den Industriestaaten nach dem Zweiten Weltkrieg die weit verbreitete und subtile Methode zum Abbau der öffentlichen Schulden. Finanzielle Repression schließt eine Verringerung der Schulden durch Sparmaß nahmen keineswegs aus, genau im Gegenteil. Man sollte aber bedenken, dass Sparmaßnahmen allein als Instrument zum Schuldenabbau kaum ausreichen dürften, da das Wirtschaftswachstum und damit die Steuereinnahmen bei hohen Schuldenquoten in der Regel recht gering ausfallen.
Wir wollen kurz die Wirkungsweise von finanzieller Repression erklären, wobei wir die Vereinigten Staaten der Jahre 1945 bis 1980 als Beispiel heranziehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte die Schuldenquote der USA mit rund 120 % ihren Höchststand. Gemeinsam mit der US-Notenbank (Fed) gelang es der Regierung, die Zinssätze und Anleiherenditen für längere Zeit niedrig zu halten. Die Geldmarktzinsen waren bei inflationsbereinigter Betrachtung lange Zeit negativ, die (nominalen) Anleiherenditen wurden bis in die 1980er-Jahre hinein über weite Strecken unter den (nominalen) BIPWachstumsraten gehalten, nämlich bei durchschnittlich 2,1 % p. a..
Anleiherenditen sollten langfristig in etwa dem Wachstum entsprechen, so sagt es die volkswirtschaftliche Theorie. Diese Entwicklung wurde dadurch unterstützt, dass es den staatlichen Behörden kontinuierlich gelang, für gewisse Überraschungen im Hinblick auf die Inflation zu sorgen.
In den drei Jahrzehnten bis 1980 lag die Inflationsrate in fast jedem Jahr über dem langfristigen Durchschnittswert. Folglich war auch das nominale Wachstum relativ hoch und bewegte sich über den nominalen Anleiherenditen, während die Investoren hierauf nicht entsprechend reagierten.
Die Anleiherenditen blieben relativ niedrig. Innerhalb von 35 Jahren war die öffentliche Schuldenquote der USA von 120 % bis Mitte der 1970er-Jahre auf 35 % gesunken und verharrte bis in die frühen 1980er-Jahre hinein auf diesem Niveau.
Laut Reinhart und Sbrancia ist dies größtenteils auf den Liquidierungseffekt infolge der finanziellen Repression zurückzuführen, der auf rund 3 % jährlich beziffert wird.
Zu dieser Entwicklung (künstlich) niedrig gehaltener Anleiherenditen trugen unterschiedliche administrative Maßnahmen bei, darunter auch der Tausch marktgängiger Anleihen mit kurzer Laufzeit gegen nicht marktgängige Anleihen mit langer Laufzeit im Jahr 1951, die so genannte „Regulation Q“ (Verbot von Zinszahlungen auf Sichteinlagen), verschiedene Maßnahmen zur Kontrolle der internationalen Kapitalströme und ein Goldbesitzverbot für Privatpersonen.
Finanzielle Repression heute
Auf den ersten Blick scheint es solche Maßnahmen nur in der sehr fernen Vergangenheit gegeben zu haben. Bei genauerem Hinsehen erkennt man allerdings verschiedene Hinweise darauf, dass finanzielle Repression aller Art auch heute stattfindet, und zwar nicht nur in Europa, sondern auch in vielen anderen Regionen der Welt. Tatsächlich gehören alle Maßnahmen, die dazu beitragen, Zinssätze und damit auch die Renditen auf Staatsanleihen künstlich niedrig zu halten, in die Kategorie finanzielle Repression, selbst wenn nicht alle Instrumente mit dem Ziel eingesetzt werden, die Finanzierungskosten von Staaten zu senken, sondern auch anderen Zielen dienen können.
Die Leitzinsen werden derzeit in allen großen Industrieländern auf einem Niveau nahe 0 % gehalten, um das Wirtschaftswachstum während des Schuldenabbaus des öffentlichen (und privaten) Sektors anzukurbeln. Ferner haben alle großen Zentralbanken ausdrücklich oder implizit angekündigt, die Zinsen für längere Zeit auf außergewöhnlich niedrigem Niveau belassen zu wollen. Die Fed hat sich explizit bis ins Jahr 2014 auf Leitzinsen nahe Null festgelegt. Auch der Ankauf von Staatsanleihen durch alle großen Zentralbanken verzerrt die Anleihekurse nach unten. Daneben hat die Fed inzwischen nicht nur Hunderte von Milliarden kurzlaufender US-Staatsanleihen in ihrer Bilanz stehen; mit der ‚Operation Twist’ hat sie zudem damit begonnen, ihre Anleihebestände am kurzen Ende der Zinsstrukturkurve gegen solche am langen Ende zu tauschen und somit direkt auf die langfristigen Finanzierungskosten des Staates einzuwirken. Hinter diesen geldpolitischen Maßnahmen steht sicherlich das Ziel, die Wirtschaft zu stabilisieren und einen Anstieg der Inflation zu verhindern, da die Funktionsfähigkeit der Geld- und Kapitalmärkte zumindest teilweise gestört ist, was wiederum negative Auswirkungen auf den Transmissionsmechanismus der Geldpolitik hat. Dennoch können Zentralbanken durch Verankerung des kurzen Endes der Zinsstrukturkurve und durch direkte Inter vention am langen Ende der Kurve auch in direkt zur Senkung der Finanzierungskosten von Staaten beitragen.
Auch durch Regulierungsvorschriften werden Staatsanleihen begünstigt. Die Aufsichtsbehörden behandeln Anlagen in Staatsanleihen in vielen Fällen als risikolos. Demzufolge müssen Finanzinstitute ihre Bestände an Staatsanleihen nicht mit Eigenkapital unterlegen (systemrelevante Banken sind verpflichtet, ein zusätzliches Kapitalpolster für Staatsanleihen aus der Europäischen Währungsunion vorzuhalten). Es gibt aber auch direktere Formen der Intervention an den Kapitalmärkten. In Österreich haben die Nationalbank und die Finanzmarktaufsicht Vorschriften erlassen, wodurch Kapitalströme von Banken zu ihren Auslandstöchtern in Mittel- und Osteuropa eingeschränkt werden. Auch hier verfolgt die Finanzregulierung nicht das Ziel einer Senkung der Finanzierungskosten von Staaten. Letztlich trägt sie hierdurch jedoch dazu bei, dass Kapital im Inland gehalten wird.
In einigen Staaten fand jedoch bereits eine direktere Form der Intervention statt. Mehrere Länder – darunter Frankreich, Portugal, Irland und Ungarn – haben ausgewählte Pensionsfonds auf die jeweilige nationale Regierung übertragen und damit ein weiteres Beispiel für finanzielle Repression geliefert: Eine Umverteilung von Assets zugunsten von Staats anleihen ist ganz offensichtlich möglich und wird auch erwartet. In Deutschland hatte ein Institut für Wirtschaftsforschung unlängst sogar eine Zwangsanleihe für Wohlhabende vorgeschlagen. Zwar lehnte die Bundesregierung dieses Instrument für Deutschland ab, bezeichnete es jedoch als denkbare Möglichkeit für Staaten mit exzessiver öffentlicher Verschuldung.
Die Senkung der nominalen Finanzierungskosten ist nur ein Teil der Geschichte. Wie am Beispiel der USA in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aufgezeigt, kommt es darauf an, die realen (nominalen) Finanzierungskosten des Staates so zu steuern, dass sie sich im Verhältnis zum realen (nominalen) BIP-Wachstum auf niedrigem Niveau befinden. Aus diesem Grund ist eine über den Erwartungen des Anleihemarktes liegende moderate Inflation erforderlich, um die Finanzierungskosten des Staates unter die BIP-Wachstumsrate zu drücken.
Gegenwärtig ist dies beispielsweise in den USA, in Großbritannien und Deutschland der Fall. Während Mitte 2012 der BIP-Deflator in den USA und Deutschland 1,5 % bis 1,75 % beträgt, befinden sich die Renditen zehnjähriger Staatsanleihen unterhalb von 1,5 %, die Realverzinsung ist in diesen beiden Staaten sogar negativ. In Großbritannien sind die zehnjährigen Renditen, bereinigt um den BIP-Deflator von rund 2,75 %, sogar noch niedriger. All diese Zahlen liegen deutlich unter dem realen Trendwachstum, das für alle drei genannten Länder positiv ausfällt, während die nominalen Anleiherenditen in diesen Märkten aktuell unterhalb der nominalen BIP Wachstumsraten liegen. In Japan, das unter einer Deflation leidet, sind die realen Anleiherenditen dagegen positiv und befinden sich in etwa auf dem Niveau des Potenzialwachstums des realen BIP. Doch selbst bei nominalen Anleiherenditen unter 1 % profitiert die japanische Regierung nicht in dem Maße vom Niedrigzinsumfeld wie die Regierungen anderer Industriestaaten.
Droht das Japan-Szenario einer Deflation?
Folgt die künftige Inflationsentwicklung in der westlichen Welt dem Weg Japans in die Deflation? Oder ist damit zu rechnen, dass die Inflation im Durchschnitt noch länger auf dem gegenwärtigen Niveau verharren wird? Hierbei ist zu bedenken, dass Zentralbanken die Inflation nicht direkt kontrollieren, sondern bestenfalls Einfluss auf die Inflationserwartungen haben, die ihrerseits durch einen Ausgabenanstieg des Privatsektors zu höherer Inflation führen können. Im aktuellen Umfeld niedrigen Wachstums ist ein Anstieg der Inflation schwer vorstellbar: Angesichts einer US-Arbeitslosenrate von rund 8 % haben Arbeitnehmer wenig Verhandlungsmacht, weshalb die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale eher unwahrscheinlich ist. Hinzu kommt, dass die Unternehmen angesichts der herrschenden konjunkturellen Unsicherheit ihre Liquidität stärken und sich mit Investitionen zurückhalten. In den Industriestaaten fällt die Nachfrage dementsprechend relativ verhalten aus, während das Wirtschaftswachstum unter den Vorkrisenniveaus liegt. Der öffentliche Sektor leidet dagegen unter hoher Verschuldung und ist zu Ausgabenkürzungen gezwungen.
Dessen ungeachtet gibt es nach unserer Ansicht Gründe zu der Annahme, dass die westlichen Industriestaaten nicht dem Weg Japans in die Deflation folgen, und dass das nominale Wachstum gehalten werden dürfte, gerade weil die politischen Entscheidungsträger und Zentralbanken der westlichen Welt mit verschiedenen Maßnahmen praktisch um jeden Preis das japanische Deflationsszenario verhindern wollen: Erstens wird das Bankenproblem weitaus entschiedener und zügiger angegangen als in Japan nach 1989, wodurch eine schnellere Erholung des Kreditmarktes wahrscheinlich wird, als dies in Japan der Fall war. Zweitens haben die Zentralbanken der USA, Großbritanniens und des Euroraums bereits bei Ausbruch der Krise mit einer massiven Ausweitung ihrer Bilanzen begonnen. Die japanische Zentralbank hatte dagegen erst nach mehr als zehn Jahren quantitative Lockerungsmaßnahmen eingeleitet, die zudem erheblich weniger aggressiv waren als in den westlichen Staaten nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers.
Das Mandat der Zentralbanken westlicher Industriestaaten umfasst die Wahrung von Preisstabilität (in einigen Fällen zusätzlich auch die Förderung des Wirtschaftswachstums), die am häufigsten als Inflationsrate von rund 2 % definiert wird, weshalb wir davon ausgehen, dass die Zentralbanken und politischen Entscheidungsträger auch in Zukunft einschreiten dürften, sobald die Gefahr einer Wiederholung des japanischen Szenarios zunimmt. Auf der anderen Seite rechnen wir allerdings auch damit, dass die zuständigen Behörden mit dem Ausstieg aus der expansiven Politik wahrscheinlich zu lange warten.
Tatsächlich deuten verschiedene Messgrößen der Inflationserwartungen in den USA und Europa nicht darauf hin, dass mit einer aufkeimenden Deflation gerechnet wird, weder in den USA noch in Europa. Sollte es dennoch zu dieser Entwicklung kommen, dann würden die Behörden, allen voran die Zentralbanken, noch immer über Instrumente verfügen, um Inflationserwartungen aufzubauen. Hierzu zählen insbesondere weitere Ausweitungen der Zentralbankbilanzen etwa durch zusätzliche quantitative Lockerungsmaßnahmen. In die gleiche Richtung zielt auch eine Banklizenz für den dauerhaften Rettungsfonds ESM, die derzeit im Euroraum diskutiert wird, und die eine ähnliche Wirkung auf die Inflationserwartungen hätte, da der (annähernd unbegrenzte) Ankauf von Staatsanleihen bei diesem Szenario von der EZB finanziert würde (indirekte Staatsfinanzierung durch die Zentralbank).
Finanzielle Repression – der Beginn eines langen Zyklus
Alles in allem ist finanzielle Repression – niedrige nominale Renditen und moderate Inflation, die eine sehr niedrige Realverzinsung nach sich ziehen – auch heute Realität und wird dies wahrscheinlich noch längere Zeit sein. Zugegebenermaßen sind Interventionen durch die Aufsichtsbehörden und Kapitalverkehrsbeschränkungen heute weniger ausgeprägt als in der Nachkriegszeit. Deshalb haben Investoren immer noch die Möglichkeit, ihr Kapital ins Ausland zu übertragen, was bis etwa 1980 wesentlich schwieriger war. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass wir erst am Beginn der finanziellen Repression in den Industrieländern stehen.
Natürlich könnte man argumentieren, dass dank all der von den Zentralbanken bereits ergriffenen Maßnahmen die Staatsschuldenkrise bald zu Ende gehen und sich das Weltwirtschaftswachstum allmählich wieder erholen könnte, wodurch sich auch die öffentliche Finanzlage verbessern würde.
Andererseits nimmt der Prozess des Schuldenabbaus in der Regel viele Jahre in Anspruch, vor allem, wenn er wie im Moment von einem hohen Schuldenstand aus beginnt. Insgesamt beläuft sich die Schuldenquote in der EWU derzeit auf etwa 90 % und liegt damit deutlich über der angestrebten Maastricht-Obergrenze von 60 %. Unter der Annahme eines jährlichen Liquidierungseffekts von 3 %, der sich daraus ergibt, dass die Zinsen unter ihrem‚ angemessenen Niveau‘ gehalten werden, würde es rund zehn Jahre dauern, den Schuldenstand in der EWU wieder auf das ursprünglich als Obergrenze festgelegte Niveau zurückzuführen. Außerdem kann man nicht einfach voraussetzen, dass die Schwellenländer – insbesondere in Asien – wie bisher weiter Devisenreserven anhäufen werden. Steigende Vorleistungskosten und eine Verschiebung des Wirtschaftsmodells in Richtung höherer Binnennachfrage wie in China implizieren einen geringeren Leistungsbilanzüberschuss (oder gar ein Defizit). Folglich könnten die Schwellenländer in Zukunft weniger zur Finanzierung der Defizite der Industrieländer beitragen. Die Zahlen und Fakten zeigen, dass sich die Anhäufung von US-Staatsanleihen durch Investoren von außerhalb der USA (in der Vergangenheit vor allem Staatsfonds und Zentralbanken) bereits verlangsamt hat. Sollten die Industrieländer es nicht schaffen, ihre Staatsfinanzen durch Sparmaßnahmen oder höheres Wirtschaftswachstum in den Griff zu bekommen, müsste die finanzielle Repression in Zukunft möglicherweise zu nehmen, um das nachlassende Interesse der Schwellenländer am Erwerb von Staatsanleihen der Industrieländer auszugleichen. Im Extremfall könnte dies auch die Einführung von Hürden im internationalen Kapitalverkehr zur Folge haben.
Außerdem könnten die Schwellenländer versuchen, Kapitalzuflüsse von ausländischen Investoren zu begrenzen, die einer finanziellen Repression im eigenen Land entgehen wollen. In Brasilien geschieht dies beispielsweise durch Erhebung einer Steuer auf Kapitalzuflüsse. Somit könnte es für Investoren in den Industriestaaten in Zukunft schwieriger werden, finanzieller Repression zu entgehen.
Es stellt sich ferner die Frage, ob die politisch Verantwortlichen heute weniger als vor den 1980er-Jahren bereit sind, ein gewisses Maß an Inflation hinzunehmen und dadurch finanzielle Repression zu erleichtern. Das mag auf die Bundesbank noch immer zutreffen.
Wir haben allerdings gesehen, dass die EZB im Verlauf der Krise immer weniger wie eine Kopie der Bundesbank gehandelt hat. In Großbritannien folgt die Inflationsrate in den vergangenen zehn Jahren einem stetigen Aufwärtstrend. Und in den USA verfolgt die Fed seit zwanzig Jahren einen sehr pragmatischen Ansatz nach dem Motto: Wir kümmern uns zuerst um die finanzielle Instabilität und die Finanzkrise und erst danach um die Inflation.
Insgesamt meinen wir, dass die Zinssätze am kurzen wie am langen Ende der Zinsstrukturkurve in den nächsten Jahren in den Industrieländern recht niedrig bleiben werden. Wir gehen insbesondere davon aus, dass die Anleiherenditen in Ländern, deren Regierungen Staatsanleihen in eigener Währung emittieren können (wie beispielsweise die USA und Großbritannien) oder deren Staatsanleihen als sehr sicher gelten, strukturell niedriger bleiben werden als das nominale BIP-Wachstum, selbst wenn die betreffende Regierung Anleihen in einer Fremdwährung (ohne Einschaltung der eigenen Zentralbank) begibt. Zu dieser Gruppe gehören die wichtigsten Anleihemärkte der EWU.
Auswirkungen auf Asset-Preise und Asset Allocation
Für Anleiheinvestoren liegen die Schlussfolgerungen auf der Hand: Das Risiko eines Rückgangs der nominalen (nicht inflationsbereinigten) Renditen ist begrenzt, solange Zentralbanken und politische Entscheidungsträger das kurze und das lange Ende der Zinsstrukturkurve niedrig halten. Bei realer, inflationsbereinigter Betrachtung sind die Gesamtrenditeerwartungen jedoch sehr niedrig und möglicherweise sogar negativ – Staatsanleihen hoher Qualität (US-Staatsanleihen, Bundesanleihen) sind für Langfristanleger zu teuer geworden. Wir gehen daher davon aus, dass sich Investoren bei ihrer Suche nach höheren Renditen weiterhin außerhalb der Märkte für erstklassige Staatsanleihen umsehen müssen. Das Interesse an Unternehmensanleihen (sei es im Investment-Grade- oder im High-Yield- Segment) und Schwellenlandanleihen dürfte anhalten.
Für Aktieninvestoren sind die Folgerungen aus diesem durch niedrige Zinsen und Renditen geprägten Umfeld zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht so klar ersichtlich. Es stimmt zwar, dass Zinssätze und Renditen, die von Regierungen künstlich auf zu niedrigem Niveau gehalten werden, zu einer Fehlallokation von Kapital und – ceteris paribus – folglich zu geringerem Wachstum führen: Die Sparleistung wird zurückgehen, weil die Opportunitätskosten des sofortigen Konsums relativ niedrig sind. Eine geringere Sparleistung bedeutet weniger Investitionen. Außerdem nehmen bei künstlich niedrig gehaltenen Finanzierungskosten kapitalintensive Investitionen zu, was zu einer ineffizienten Ressourcenallokation und zu überhöhten Investitionen in bestimmten Wirtschaftszweigen führen könnte.
Wie aber lässt sich erklären, dass die Phase der finanziellen Repression nach dem Zweiten Weltkrieg mit hohen Wachstumsraten in den Industrieländern einherging? Zum einen profitierten Europa und Japan von den Investitionen im Zuge des Wiederaufbaus ihrer Industrie und Infrastruktur nach dem Krieg. Hinzu kamen die zu jener Zeit günstigen demographischen Voraussetzungen in den Industriestaaten. Heute dagegen treffen beide Aspekte – Investitionstätigkeit und Demographie – sehr viel stärker auf die Schwellenländer als auf die westliche Welt zu. Die Wachstumsperspektiven für global tätige Unternehmen, die von der starken Nachfrage in Schwellenländern profitieren können, dürften daher nicht schlecht sein, wohingegen Unternehmen, die hauptsächlich von der Binnennachfrage in Industriestaaten abhängig sind, aufgrund des relativ niedrigen Wachstums in ihren Heimatländern eine unterdurchschnittliche Wertentwicklung aufweisen dürften.
Was den Aktienmarkt insgesamt betrifft, gehen niedrige (reale) Renditen normalerweise Hand in Hand mit eher moderaten Aussichten in Bezug auf das Kurs-Gewinn- Verhältnis (KGV, siehe Schaubild 4). Das ist auch nachvollziehbar, da niedrige reale Renditen auf ein Umfeld mit niedrigem (realen) Wachstum hinweisen. Der optimale Bereich für unseren bevorzugten Bewertungsmaßstab das Graham-Dodd-KGV (zyklusbereinigtes KGV auf Basis der durchschnittlichen Gewinne der letzten 10 Jahre), ist eine reale Rendite von 3 – 4 % und nicht das aktuell zu beobachtende Niveau sehr niedriger oder sogar negativer (realer) Renditen. Wenn man von der bisherigen Entwicklung auf die zukünftige schließen kann, ist ein bedeutender Anstieg des KGVs deshalb unwahrscheinlich.
Diese Auffassung wird durch das derzeitige Bewertungsniveau von Aktien untermauert. In den USA liegt das zyklusbereinigte Graham-Dodd-KGV mit derzeit ca. 21 über dem langfristigen Durchschnittswert von 16. In Europa ist das KGV mit rund 14 historisch betrachtet niedrig und liegt deutlich unter dem Wert für die USA, allerdings noch nicht auf extrem niedrigem Niveau (unter 10). Wir gehen demnach davon aus, dass Kursgewinne im aktuellen makroökonomischen Umfeld zwar nicht auszuschließen, in ihrem Umfang aber begrenzt sind. Für uns lautet die Schlussfolgerung hieraus, dass Investoren weniger auf eine KGV-Erhöhung und mehr auf Dividendenrenditen und nachhaltiges Dividendenwachstum setzen sollten.
Wenn wir mit unserer Erwartung moderater, aber positiver Inflationsraten richtig liegen, dann sollten sich Assetklassen, die eine Absicherung gegen Inflation bieten, in Phasen finanzieller Repression gut entwickeln. Zu diesen Assetklassen zählen neben dividendenstarken Aktien u. a. Rohstoffe, Immobilien oder inflationsgeschützte Anleihen – stets in Abhängigkeit ihrer jeweiligen Bewertungsniveaus.
Aktive Asset Allokation erscheint wichtiger denn je
Die finanzielle Repression hat jedoch auch Auswirkungen auf die Asset Allocation. Nach unserer Ansicht dürften viele Investoren auch weiterhin einen relativ kurzfristigen Anlagehorizont verfolgen und vorrangig taktische Portfoliopositionen eingehen. Tatsächlich ist die durchschnittliche Haltedauer von US-Aktien zwischenzeitlich auf weniger als ein halbes Jahr gesunken. Zum Vergleich: Mitte des vergangenen Jahrzehnts lag die Haltedauer noch bei rund einem Jahr, vor 40 Jahren bei mehr als fünf Jahren. Der immer kürzere Anlagehorizont kommt nicht von ungefähr. Wie oben dargelegt, dürften die erwarteten Kurssteigerungen in einem Umfeld niedriger Realrenditen sowohl für teure Anleihen als auch für Aktien begrenzt sein. Investoren versuchen daher, Zusatzerträge nicht nur durch Zinsdifferenzen (d. h. durch Investition in Spread-Produkte) oder Dividenden, sondern auch durch Ausnutzung zyklischer Marktschwankungen zu erzielen. Wir beobachten tatsächlich, dass zyklische Indikatoren – insbesondere Wendepunkte in der Dynamik der Gewinnrevisionen (d. h. Veränderungen des Verhältnisses von positiven zu negativen Gewinnrevisionen) sowie Wendepunkte bei Überraschungsindikatoren der konjunkturellen Entwicklung – von wachsender Bedeutung für die Erklärung von Wendepunkten bei der Kursentwicklung risikobehafteter Assets sind: Wenn Gewinnerwartungen und makroökonomische Daten besser (schlechter) ausfallen, dann steigen (fallen) die Kurse risikobehafteter Assets. Die Liste der Auslöser kann nun noch um die erwarteten politischen Maßnahmen zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums ergänzt werden. Jedes Mal, wenn der Markt eine neue Runde geldpolitischer Stimuli oder politischer Maßnahmen zur Verhinderung einer weiteren Eskalation der Schuldenkrise einpreist, steigt die Risikobereitschaft der Märkte. Umgekehrt sinkt die Risikobereitschaft, wenn die Wirkung einer Stimulierung nachlässt oder der Umfang politischer Maßnahmen enttäuscht. Der Risikoappetit steigt (sinkt), sobald die Marktteilnehmer bessere (schlechtere) Wachstumsaussichten einpreisen, unabhängig vom mittelfristigen Ausblick für die jeweilige Assetklasse.
Obwohl wir weiterhin der Überzeugung sind, dass auf lange Sicht das Bewertungsniveau der maßgebliche Treiber von Asset-Erträgen ist, sind wir auch der Meinung, dass eine aktive Asset Allocation im aktuellen Marktumfeld einen erheblichen Beitrag zur Wertschöpfung leisten kann.
Abschließend lässt sich sagen, dass die finanzielle Repression ein wichtiges Anlagethema ist, das uns voraus sichtlich noch längere Zeit begleiten wird. Die finanzielle Repression hat nicht nur Auswirkungen auf die Asset-Erträge, sondern auch auf die Art, wie wir investieren.
Autor: Stefan Hofrichter
Stefan Hofrichter ist Leiter der Abteilung Volkswirtschaft und Strategie bei
Allianz Global Investors. Er zeichnet sich für die Analyse volkswirtschaftlicher
Entwicklungen verantwortlich und ist Mitglied im Global Policy Committee,
das die Leitlinien für die Anlagestrategien bei Allianz Global Investors entwickelt.
Entscheidende Einblicke für vorausschauende Anlagestrategien! Wir sind überzeugt: Nur wer heute schon versteht, wie sich unser Leben in Zukunft entwickelt, kann vorausschauend investieren. Allianz Global Investors ist mit fachübergreifenden Kompetenzteams und Spezialisten global vertreten. Ausführliche Informationen erhalten Sie unter www.allianzglobalinvestors.de.
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