Chinas langer Marsch von Mao zum Markt
China erreicht mit den Reformvorhaben eine neue Stufe der wirtschaftlichen Transformation.
Hans-Jörg Naumer Head of Global Capital Markets & Thematic Research, Allianz Global Investors
Stefan Scheurer Vice President, Global Capital Markets & Thematic Research, Allianz Global Investors
"Den Fluss überqueren und mit den Füßen nach den Steinen tasten" - mit dieser Losung gab Chinas Reformer Deng Xiaoping den Weg der schrittweisen Öffnung der größten Volkswirtschaft der Welt zur globalen Marktwirtschaft vor. Ein radikaler, ein prag- matischer Schritt: Zukünftig sollten nicht mehr die Lenkung der Partei und die Ideologie im Mittelpunkt stehen, sondern das Wachstum und der ökonomi- sche Erfolg. "Egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist", ließ Deng verkünden, "Hauptsache sie fängt Mäuse". Was Mitte der 1980er Jahre begann, führte China hinaus aus dem wirtschaftlichen Niedergang und zurück zu einer wirtschaftlichen Stärke, mit der das Reich der Mitte an seine Geschichte anknüpft.
Zur Erinnerung: Nach Daten des Historikers Angus Maddison belief sich Chinas Anteil an der Welt- wirtschaft im Jahr 1000 vor Christus auf 22 % (siehe Schaubild 1). Der Abstieg setzte mit der Industri- alisierung Europas und der Entdeckung Amerikas ein, wobei die Abschottung vom Welthandel durch die Ming-Dynastie vermutlich den entscheidends- ten Schritt zur Degeneration darstellte. Handel und Wettbewerb als Innovationstreiber wurden ausgeschaltet. Am Ende war das Land geschwächt und konnte sich nicht mehr den Ansprüchen der Kolonialstaaten entziehen. Über den Zwischenschritt des Opiumkrieges war das Land reif für die kommu- nistische Machtergreifung Maos. Kulturrevolution und der "Große Sprung nach vorne" vollendeten, was mit der Ming-Dynastie begann: Der freie Markt und mit ihm der "Wettbewerb als Entdeckungsver- fahren" (F. A. von Hayek) wurden ausgeschaltet. Das Allwissen der Partei als Hüterin der Ideologie klärte die Allokationsfrage. Massenarmut und Hungersnöte waren die Folge.
Umso radikaler erscheint die "Flussüberquerung" Dengs aus heutiger Perspektive. Die jüngsten Libe- ralisierungen stehen in einer Linie mit dieser Ent- wicklung: Nicht nur, dass Frankfurt bzw. London als weitere Handelszentren des Renminbi Botschafter davon sind, auch die steigende Anzahl von bilate- ralen Swap-Vereinbarungen zwischen der chinesischen und anderen internationalen Notenbanken (siehe Schaubild 2) sowie die jüngsten Schieflagen von Immobilienentwicklern und Solarfirmen ver- deutlichen diese historische Wendung. Das Korrektiv des Marktes rückt gegenüber der zentralen Planung immer weiter in den Vordergrund. Die von dem Ökonomen Joseph Schumpeter ausgerufene "schöp- ferische Kraft der Zerstörung" kommt zur Entfal- tung. Da ist es nur konsequent, wenn Schieflagen auch zugelassen werden.
Fehlallokationen, die sich in überhitzten Immobili- enmärkten, faulen Bankkrediten und einem unre- gulierten Schattenbankensystem niederschlagen, sollen den Marktkräften überlassen werden. Das sind direkte Konsequenzen der Beschlüsse des jüngsten Nationalen Volkskongresses vom Frühling dieses Jahres.
Die Beschlüsse des jüngsten Nationalen Volkskongresses
In deren Mittelpunkt stehen insgesamt betrachtet die Liberalisierung des Kapitalmarktes und somit der Zinsen. Der Marktmechanismus soll eine "entschei- dende" Rolle in der Ressourcenallokation einnehmen mit dem Ziel der effizienteren Allokation des Kapi- tals. Zu den Beschlüssen gehörten unter anderem:
• Die Attraktivität für ausländische Investoren soll durch die Reduzierung von Handelsrestriktionen gesteigert werden (unter diesem Aspekt ist auch die Etablierung der Freihandelszone in Shanghai zu sehen).
• Eine Reform der staatseigenen Unternehmen wurde verabschiedet.
• Das Reich der Mitte dürfte fiskalpolitisch die Ver- flechtungen zwischen der Zentralregierung und den Provinzregierungen mit deren budgettech- nischen Zuständigkeiten stärker vereinheitlichen.
• Die Implementierung der Reformen soll von einem zentralen Komitee überwacht werden.
Dazu am Rande: Die Ein-Kind-Politik soll weiter gelockert werden.
Wirtschaftspolitischer Schwenk
Gleichzeitig kommt es zu einer Änderung des "Geschäftsmodells" der chinesischen Wirtschaft: Nicht mehr der Export soll im Mittelpunkt des Wachstums stehen, sondern der Binnenkonsum. Fast erinnert das an die Politik eines Ludwig Erhard, der die Reanimation der deutschen Wirtschaft nach dem 2. Weltkrieg über die Freigabe der Preise bei einer allerdings nur schrittweisen Einführung der Konvertibilität der Deutschen Mark bewerkstelligte.
Einer Deutschen Mark, die in ihrer frühen Phase künstlich unterbewertet gehalten wurde, damit die Exporte den (Wieder-)Aufbau der Wirtschaft anzie- hen konnten.
Mit den Beschlüssen des Nationalen Volkskongres- ses scheint in China ein Reformpaket auf den Weg gebracht worden zu sein, das im Vergleich zu frühe- ren Beschlüssen des Volkskongresses sehr umfang- reich, aber auch sehr ambitioniert erscheint. Das Jahr 2020 wird zeigen, ob China den eingeschlagenen Weg erfolgreich zu Ende gehen kann. Denn bis dahin sollen die verabschiedeten Reformen erreicht und umgesetzt sein.
Verstehen. Handeln.
Mit den Reformvorhaben ist eine neue Stufe der wirtschaftlichen Transformation erreicht. Der Preis- mechanismus wird an den Finanzmärkten am Ende aller geplanten Reformschritte im Mittelpunkt des Allokationsprozesses stehen. Staatlich gelenkte Zinsen und Kreditvergaben sollten dann der Ver- gangenheit angehören. Als logische Konsequenz der Liberalisierung dürfte auch der Renminbi am Ende voll konvertierbar und frei handelbar sein - bereits heute ist der Renminbi die am zweithäu- figsten gehandelte Währung in der internationalen Handelsfinanzierung. So möchte China laut seines Vizepremiers Zhang Gaoli ein "modernes und wettbewerbsfähiges Marktsystem mit fairen und offenen Marktregeln etablieren". Als erster Schritt dazu ist die jüngste Ausweitung der Schwankungsbreite (von +/-1 % auf +/-2 %) zu sehen (siehe Schaubild 3).
Für die zukünftige Entwicklung Chinas bedeutet dies:
• Die Entwicklung wird weniger planbar, da die planwirtschaftlichen Elemente weiter verdrängt werden und die Preissignale ins Zentrum der Allokationsentscheidung rücken.
• Das sollte sich zukünftig nicht nur in stärkeren Schwankungen des Bruttoinlandsprodukts, sondern auch des Renminbi niederschlagen. Bisher waren die erwünschten Wachstumsraten Ausfluss zentralstaatlicher Planung.
• Wo sich Zinsen über Marktpreise bilden und Bankrotte zugelassen statt durch Geldschöpfung kaschiert und vertagt werden, ist mit einer Ver- knappung und Verteuerung der Kredite zu rech- nen. Das dürfte sich auch in der Realwirtschaft (Stichwort: Immobilienmärkte) auswirken.
• Die Welt sollte sich also auch an weitere Abschrei- bungen im Bankensystem und an Schieflagen gewöhnen.
• Eine effiziente Allokation von Kapital hat eben ihren Preis.
Chinas langer Marsch kommt in der Reifephase der Marktwirtschaft an.
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