Niederlage für Johnson: Geregelter Brexit wohl nicht bis Halloween - Fristverlängerung oder Neuwahl?
Nach der vom britischen Parlament erzwungenen Vollbremsung beim Brexit erwägen die übrigen EU-Staaten nun eine Fristverlängerung.
EU-Ratschef Donald Tusk und EU-Parlamentspräsident David Sassoli plädierten für einen Aufschub des britischen EU-Austritts bis Ende Januar 2020. Bundesaußenminister Heiko Maas verlangte allerdings vorher eine klare Ansage aus London. Frankreich zeigte sich zunächst nur offen für eine kurze Verschiebung.
Der britische Premierminister Boris Johnson hatte zwar am Dienstagabend eine erste Abstimmung im Unterhaus über seinen mit der EU vereinbarten Austrittsvertrag gewonnen. Das Parlament lehnte aber eine Gesetzgebung im Eiltempo ab. Damit kann Johnson einen geregelten Austritt zum 31. Oktober praktisch nicht mehr erreichen, und er legte die Gesetzgebung auf Eis. Daraufhin empfahl Tusk, den seit dem Wochenende vorliegenden Antrag Großbritanniens auf Fristverlängerung bis Ende Januar anzunehmen. Am Mittwochnachmittag wollen sich die EU-Botschafter in Brüssel damit befassen.
Die französische Europa-Staatssekretärin Amélie de Montchalin brachte in Paris aber eine kürzere Frist ins Spiel. "Wir werden Ende der Woche sehen, ob eine rein technische Verlängerung von einigen Tagen gerechtfertigt ist", sagte sie nach Regierungsangaben am Dienstagabend.
Außenminister Maas sagte den Sendern RTL und ntv, die Sache müsse in der EU erörtert werden und sei noch nicht entscheidungsreif. "Wenn es darum geht, tatsächlich bis Ende Januar nächsten Jahres noch einmal den Brexit aufzuschieben, müssen wir wissen: Was ist der Grund dafür? Was wird in der Zwischenzeit geschehen? Wird es Wahlen geben in Großbritannien?", fragte der SPD-Politiker. "Vor allen Dingen müssen wir wissen, was die Briten vorhaben und was Johnson vorhat."
Johnson will sich am Mittwochnachmittag im britischen Unterhaus äußern. Spekuliert wird über eine Neuwahl in Großbritannien im Dezember. Je nach Wahlausgang könnte Johnson das die Chance geben, seinen Deal glatt durchs Parlament zu bringen und sein Land danach mit Vertrag aus der EU zu führen. Ein Teil der Opposition signalsierte am Mittwoch grundsätzliche Bereitschaft, einer Neuwahl nicht im Wege zu stehen. Johnson hatte sich am Mittwoch auch mit Oppositionsführer Jeremy Corbyn getroffen.
Daneben ist auch ein EU-Austritt ohne Vertrag immer noch nicht völlig ausgeschlossen. So hatte Johnson am Dienstagabend gesagt: "Es bleibt bei unserer Politik, dass wir keine Verzögerung haben sollten, dass wir die EU am 31. Oktober verlassen sollten." Er wolle nun mit den Verantwortlichen in Brüssel reden, gleichzeitig aber die Vorbereitungen für einen No-Deal-Brexit beschleunigen.
Allerdings kann das die EU-Seite mit einem Beschluss zur Fristverlängerung einfach verhindern. Ratschef Tusk hatte zuletzt bekräftigt, dass sich die EU niemals selbst für einen No-Deal-Brexit entscheiden werde. Denn befürchtet werden danach wirtschaftliches Chaos, Unsicherheit und Versorgungsengpässe.
EU-Parlamentspräsident Sassoli warb um einen Aufschub um drei Monate, damit Großbritannien seine Position klären könne und noch genug Zeit für die Ratifizierung eines Austrittsvertrags auf EU-Seite bleibe. Nach Darstellung von Diplomaten ist eine "Flextension" im Gespräch - eine flexible Frist. Sollte die Ratifizierung des Brexit-Vertrags in London früher gelingen, wäre ein Austritt vor Fristende möglich.
Der Grünen-Europapolitiker Philippe Lamberts begrüßte die wahrscheinliche Verschiebung. "Das ist eine gute Nachricht", sagt der Grünen-Fraktionschef im Europaparlament in Straßburg. Seine Partei wolle ohnehin keinen Brexit, der für alle nur Verluste bringe. "Das gibt uns mehr Zeit, die Schlacht zu schlagen." Eine Fristverlängerung bis Ende Januar nannte er vernünftig.
Der Chef der britischen Brexit-Partei, Nigel Farage, sagte indes einen längeren Aufschub voraus. "Ich würde annehmen, dass die Verlängerung sechs Monate betragen wird", sagte der Europaabgeordnete in Straßburg. Die EU "wird diesmal Johnson Zeit geben und sagen: Klär das!"
Im Unterhaus waren die Mehrheiten am Dienstagabend ein weiteres Mal verwirrend. Zwar gewann Johnson - der im Parlament nur über eine Minderheit der Sitze verfügt - tatsächlich genügend Stimmen zum Start der Gesetzgebung über seinen Brexit-Deal. Der Zeitplan fiel dann aber durch, weil eine Mehrheit der Abgeordneten Spielraum für eine genaue Prüfung des 110 Seiten starken Gesetzespaketes möchte.
Irlands Premierminister Varadkar trägt Brexit-Verlängerung mit
Der irische Premierminister Leo Varadkar hat als erster der 27 EU-Staats- und Regierungschefs seine Zustimmung zu einer Verlängerung der Brexit-Frist bis 31. Januar 2020 erklärt. Nach einem Telefonat Varadkars mit EU-Ratspräsident Donald Tusk teilte die irische Regierung am Mittwoch in Dublin mit, die Frist lasse einen früheren Austritt für Großbritannien offen, sollte der ausgehandelte Deal vor Ablauf dieser Frist in britisches Recht umgesetzt worden sein.
Irland ist als direkter Nachbar und wegen der besonderen Situation Nordirlands wie kein anderes EU-Land von den Brexit-Entscheidungen in London betroffen. Der jetzt ausgehandelte Deal sieht de facto eine Zollgrenze zwischen Nordirland und dem Rest Großbritanniens vor, während die Zollgrenze zwischen Irland und Nordirland weitgehend geöffnet bleiben soll.
Die von Tusk empfohlene Zustimmung der EU-Länder zu einer Fristverlängerung bis 31. Januar gilt als wahrscheinlich, ist aber nicht gesichert. So hält etwa Frankreich eine kürzere Frist für angemessen. Auch Deutschland will nach Angaben von Außenminister Heiko Maas zunächst klarere Informationen aus London abwarten. Am Nachmittag sollen in Brüssel die EU-Botschafter der 27 verbleibenden EU-Länder zusammenkommen.
LONDON (dpa-AFX)
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