Sie sind nicht so dumm, wie Sie meinen
Psychotherapie für Bärenmärkte
Von Vitaliy Katsenelson
In jüngerer Zeit habe ich öfters dieses nagende Gefühl, dass alles, was ich anpacke, nach hinten losgeht. Immer, wenn ich eine Aktie kaufe, die bereits stark gefallen ist, und meine Analysen mir sagen, dass die Aktie extrem billig ist, fällt sie, nachdem ich gekauft habe, munter weiter.
Habe ich meine Fähigkeit, Aktien zu bewerten, komplett verloren? Höre ich nicht mehr auf die U.S.-Filmlegende Will Rogers, der sagte, dass man nur solche Aktien kaufen sollte, die steigen? Und wenn sie nicht steigen, so Rogers ironisch, sollte man sie nicht kaufen…
Nein, ich bin nicht dümmer geworden, und meine Fähigkeiten zur Aktienanalyse habe ich auch noch! Ich war einfach ein williger Teilnehmer des letzten Bärenmarktes. Bärenmärkte lassen Sie dümmer aussehen als Sie wirklich sind. Und dieses Gefühl nagt an Ihnen. Bullenmärkte hingehen verleihen Ihnen ein Hochgefühl und versetzen Sie in den Glauben, klüger zu sein als Sie wirklich sind. (Anmerkung M.O.: Erinnern Sie sich noch an die vielen selbsternannten Aktienexperten in den Jahren 1999 – 2000? Wo sind sie jetzt?)
Wenn Sie sich dumm fühlen, sind Sie versucht, das Gegenteil von dem zu tun, was Sie tun sollten. Furcht und Schmerz – ja, anhaltende Verluste sind sehr schmerzhaft! – sind gefährliche Gefühle, weil Sie dadurch veranlasst sein könnten, in Panik zu verfallen, ihr Selbstvertrauen zu verlieren und dann dumme Dinge zu tun.
Um unseren Schmerz zu verringern, reagieren wir falsch: wir fliehen in die einzige Vermögens-klasse, die im Bärenmarkt zu funktionieren scheint – Liquidität! Aber Liquidität ist nur dann die beste Vermögensklasse (cash is king), wenn die anderen Vermögensklassen schlechter sind. Wenn Sie keine Aktien mit einem langfristig wenig überlegenen Chance-Risiko-Verhältnis finden können, dann ist Liquidität wirklich die beste Vermögensklasse.
In einem Bärenmarkt wird Liquidität immer unattraktiver, weil gute Unternehmen mit dem Markt zusammen mit den schlechten zu lausigen Preisen aus dem Fenster geworfen werden. Sie müssen sich aktiv an das Wort M-O-R-G-E-N erinnern. Ja, morgen. Denken Sie an die Verse aus dem Musical Annie:
When I'm stuck with the day that's gray and lonely
I just stick out my chin and grin and say, ohhh
The sun will come out, tomorrow
So you gotta hang on' til tomorrow.
(Wenn ich in einem grauen und einsamen Tag gefangen bin
Recke ich mein Kinn hervor und sage, ohh
Die Sonne wird morgen wieder scheinen,
also musst Du bis morgen durchhalten.)
Leider wissen wir nicht, ob morgen wirklich morgen oder in fünf Jahren ist. Aber die Disziplin des Investierens ist nun einmal ein Marathon und nicht ein Sprint. Lassen Sie es nicht zu, dass der Bärenmarkt Sie zu einem Sprinter macht!
Erinnern Sie sich daran, dass Sie nicht so dumm sind, wie Sie sich angesichts ihres Portfolios fühlen.
Sie haben gelegentlich eine Aktie gekauft, mit der Sie Geld verdient haben. So mache ich mir Mut: ich ziehe einen Chart einer Aktie hervor, mit der ich viel Geld verdient habe. Oder ich schaue mir eine Aktie an, die ich aus den richtigen Gründen verkauft habe, bevor der Kurs fiel. Es bereitet mir Vergnügen, mir meine klugen Tage in Erinnerung zu rufen.
Wir alle haben Aktien, bei denen wir den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Nur vergessen wir das leider in einem Bärenmarkt. Ich schlage vor, dass Sie sich jetzt, wo Sie sich einsam und miserabel fühlen, daran erinnern. Dann werden Sie nämlich in der Zukunft mehr solcher Top-Investments haben, weil Liquidität und Geldmarktkonten Ihnen langfristig nicht das Vergnügen des Erfolgs und Sieges bringen werden.
Es gibt den Bullenmarkt noch, er versteckt sich nur hinter dem hässlichen Bärenmarkt. Glauben Sie mir, er wird sein glückliches Gesicht wieder zeigen. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Es ist einfach, in einem Bärenmarkt das Kaufen zu vergessen. Es ist viel einfacher, sich für das Verkaufen zu entscheiden. Jedes Mal, wenn Sie eine Aktie kaufen, sehen Sie nachher dumm aus, weil die Aktie weiter fällt. Vor kurzem kaufte ich einige unglaublich billige Aktien und – natürlich! – fielen sie danach weiter. Ich fühle mich derzeit nicht besonders klug. Aber vor einiger Zeit analysierte ich diese Aktien, bestimmte ihren fairen Wert und eine Sicherheits-marge und konnte so bestimmen, zu welchem Kurs ich diese Aktien kaufen würde. Die Aktien fielen auf Kaufniveau und die fundamentalen Daten der Unternehmen hatten sich nicht ver-ändert. Also kaufte ich.
Es ist unmöglich, bei einem Kauf den Tiefpunkt zu erwischen. Mein Ziel ist nicht, zum Tief zu Kaufen und zum Hoch zu verkaufen. Nein, ich kaufe, wenn eine Aktie billig ist und verkaufe sie, wenn Sie fair bewertet ist. Will Rogers’ Ratschlag, nur steigende Aktien zu kaufen, ist großartig, aber ich habe noch keinen gesehen, der herausgefunden hat, wie man das auch wirklich macht.
Nein, Sie sind nicht so dumm wie der Bärenmarkt sie aussehen lässt!
Vitaliy N. Katsenelson, CFA ist Chief Investment Officer at Investment Management Associates, Inc. einer Investmentfirma mit Sitz in Denver, die nach wertorientierten Prinzipien investiert.
Prof. Dr. Max Otte ist Herausgeber des PRIVATINVESTOR (www.privatinvestor.de) und Geschäftsführender Gesellschafter der IFVE Institut für Vermögensentwicklung GmbH. Ziel des Instituts ist die Aktienanalyse und die Entwicklung von Aktienstrategien für Privatanleger.Der obige Text spiegelt die Meinung des jeweiligen Kolumnisten wider. Die finanzen.net GmbH übernimmt für dessen Richtigkeit keine Verantwortung und schließt jegliche Regressansprüche aus.