Hoffnung auf wackligen Beinen
Nach einem 27 Monate andauernden Vakuum an der Staatsspitze und zwölf erfolglosen Versuchen, einen Präsidenten zu wählen, hat das libanesische Parlament endlich einen Ausweg aus der festgefahrenen Situation gefunden. Am 9. Januar 2025 stimmten in der 13. Sitzung des Parlaments 99 Abgeordnete für den Armeechef Joseph Aoun und beendeten damit die Pattsituation in der Präsidentschaftsfrage, die seit 2022 die libanesische Politik gelähmt hatte. Aoun hatte im ersten Wahlgang nicht die erforderliche Stimmenzahl erreicht, aber nachdem Parlamentspräsident Nabih Berri eine zweistündige Beratungspause für die Parlamentsfraktionen angeordnet hatte, war der Generalstabschef der Armee schließlich doch noch erfolgreich.Das politische System des Libanon lässt sich als konfessionelle Demokratie bezeichnen, die eine Machtteilung zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften ermöglicht. Dieses System untergräbt grundlegende demokratische Prozesse wie etwa das Kräftespiel zwischen Regierungspartei und einer klaren Opposition. Die Präsidentschaftswahlen spiegeln diese Dysfunktionalität wider, wie sich in den vergangenen 27 Monaten deutlich gezeigt hat, denn die politischen Parteien konnten sich nicht auf einen Kandidaten einigen, der von allen Parteien gleichermaßen unterstützt wird.Der Wahl ging das Waffenstillstandsabkommen voraus, das am 27. November 2024 zwischen dem Libanon und Israel unterzeichnet wurde und den Krieg beendete, der im September mit der Invasion Israels in den Südlibanon begonnen hatte. Einen Tag nach Unterzeichnung des Abkommens kündigte Berri an, dass der 13. Wahlgang am 9. Januar 2025 stattfinden und das Parlament so lange tagen werde, bis ein Präsident gewählt sei. Diese Entscheidung war ein wichtiger Wendepunkt, der vermutlich auf internen und externen Druck im Zusammenhang mit dem Waffenstillstandsabkommen zurückzuführen ist.Durch den im September 2024 begonnenen Krieg haben die geopolitischen Verhältnisse und die innenpolitische Landschaft des Libanon sich grundlegend verändert. Die Hisbollah, bis dahin einer der dominierenden Akteure in der libanesischen Politik, wurde in den Augen der internationalen Gemeinschaft und der politischen Fraktionen im Libanon durch diesen Krieg geschwächt. Diese Machtverschiebung wirkte sich auch auf ihre Verbündeten wie die vom Parlamentspräsidenten angeführte Amal-Bewegung aus. Berri, der Hauptverbündete der Hisbollah, hat die Sitzung am 9. Januar wohl unter dem Druck des Waffenstillstandsabkommens einberufen, um einen von den USA und Saudi-Arabien unterstützten Präsidenten an die Macht zu bringen. Dieser Schritt war wichtig und kam zum richtigen Zeitpunkt. Aber er macht im Grunde deutlich, wie sehr Berri politisch geschwächt ist, und gefährdet die Souveränität des Libanon.Nachdem Berri die Sitzung für den 9. Januar anberaumt hatte, sprach Walid Dschumblat, Oberhaupt der drusischen Gemeinschaft und ehemaliger Präsident der Progressiven Sozialistischen Partei, sich als erster für Aoun als Präsidentschaftskandidaten aus. Der Armeechef erhielt daraufhin Unterstützung von Saudi-Arabien, den Vereinigten Staaten, Frankreich, Ägypten und Katar – Länder, die den Krieg beenden und den Libanon in der Nachkriegszeit stabilisieren wollen.Diese Wahl zeigt, wie stark die libanesische Politik durch externe Dynamiken beeinflusst wird, weil das Land nach wie vor ein Brennpunkt regionaler und internationaler Interessenkonflikte ist.Als Befehlshaber der Armee ist Aoun für die Umsetzung der UN-Resolution 1701 verantwortlich und stimmt sich kontinuierlich und auf direktem Weg mit den Amerikanern und Saudis ab. Dies ist vor allem in jüngster Zeit der Fall, denn angesichts des schwindenden Einflusses des Iran in der Region – insbesondere im Libanon – und seit dem Sturz des syrischen Regimes gelten diese beiden Staaten als die einflussreichsten Akteure in der libanesischen Politik. Das wachsende Gewicht der USA und Saudi-Arabiens zeigt sich auch daran, dass seit dem Waffenstillstand einheimische Parteien an Einfluss gewinnen, die beiden Ländern näherstehen, und dass sich ein Block formierte, der sich für Aouns Nominierung als Präsidentschaftskandidaten einsetzte.Aoun erhielt nach dem Waffenstillstand auch deshalb mehr Zuspruch, weil das sogenannte „schiitische Duo“ aus Amal-Bewegung und Hisbollah an Macht einbüßte. Im ersten Wahlgang enthielt sich dieses Duo der Stimme. Die christliche Partei „Freie Patriotische Bewegung“ des früheren Präsidenten Michel Aoun stimmte hingegen für „Souveränität und Verfassung“. Denn viele werten Joseph Aouns Wahl als deutlichen internationalen und regionalen Eingriff in die libanesische Politik. Als Berri eine Unterbrechung der Sitzung forderte, trafen sich zwei Abgeordnete des „Duos“ mit Aoun, um sich politisch mit ihm zu verständigen, damit sie ebenfalls für ihn stimmen konnten. Im zweiten Wahlgang wurde Joseph Aoun zum gewählten Präsidenten erklärt. Es war ihm also gelungen, das „schiitische Duo“ mithilfe der erforderlichen Garantien zu überzeugen, ihm einige ihrer Stimmen zu geben.Diese Wahl zeigt, wie stark die libanesische Politik durch externe Dynamiken beeinflusst wird, weil das Land nach wie vor ein Brennpunkt regionaler und internationaler Interessenkonflikte ist. Sie ist aber auch ein Beleg dafür, dass das arabische Interesse am Libanon wieder erwacht ist, nachdem der Iran an Einfluss im Land verloren hat. Hinzu kommt, dass der Libanon wegen seiner anhaltenden Wirtschaftskrise auf Hilfe von außen angewiesen ist. Die externen Kräfte beeinflussen die libanesische Innenpolitik mithilfe ihrer libanesischen Verbündeten und lassen fraglich erscheinen, ob das Land seine Souveränität gegenüber regionalen und internationalen Akteuren wird behaupten können.Der neue Präsident steht vor einer Mammutaufgabe.Die Wahl des Präsidenten ist nach mehr als zwei Jahren ohne Staatsspitze ein Hoffnungsschimmer für das Land, das mit enormen Herausforderungen zu kämpfen hat. Der neue Präsident steht vor einer Mammutaufgabe: Er muss die durch den Krieg zerstörte Infrastruktur und die durch das politische Vakuum zerstörten Institutionen wiederaufbauen und in einer instabilen Region die Position des Libanon festigen. In seiner ersten Rede als Präsident forderte Aoun, die libanesische Armee müsse die alleinige Streitkraft sein, und stellte damit indirekt die Rolle der Hisbollah infrage. Diese Aussage gibt Aufschluss über die künftige Bewaffnung der Hisbollah und ihre Einbindung in das politische System. Aouns Haltung gilt als mutig, aber inwieweit diese Forderung ohne die Unterstützung internationaler Großmächte wie USA und Saudi-Arabien umgesetzt werden kann, ist nicht klar.Durch Aouns Wahl wurde der 27 Monate andauernde politische Stillstand beendet, aber es wurde auch sichtbar, wie instabil das Land und wie groß der Einfluss ausländischer Akteure auf die libanesische Innenpolitik ist. Die Wahl signalisiert das Ende des iranisch-syrischen Einflusses und den Beginn einer saudisch-amerikanischen Vorherrschaft. Sie ist ein Startschuss für die Golfstaaten, um möglicherweise wieder im Libanon zu investieren, und weckt die Hoffnung, dass die Wirtschaft sich erholt. Dennoch steht die neue libanesische Führung vor immensen Herausforderungen. Ob die neue Regierung der Situation gewachsen sein wird, bleibt abzuwarten.Wenn diese Regierung erfolgreich sein soll, braucht der Libanon mehr internationale Unterstützung, damit das, was der Präsident in Aussicht gestellt hat, auch wirklich erreicht wird. Die EU und alle anderen internationalen Akteure, die wissen, wie man Justizsysteme reformiert, unabhängige Medien unterstützt und – dies ist das Wichtigste – soziale Sicherungssysteme ausbaut, sollten der jetzt amtierenden Regierung bei der Bewältigung der vor ihr liegenden Herausforderungen helfen.Aus dem Englischen von Christine Hardung Weiter zum vollständigen Artikel bei IPG Journal
Quelle: IPG Journal