Euro am Sonntag-Ausland

Türkei: Niedrig bewertet

27.07.19 12:00 Uhr

Türkei: Niedrig bewertet | finanzen.net

Erdogan feuert den Notenbankchef. Das nährt Zweifel an der politischen Unabhängigkeit der Währungshüter. Trotzdem kann es sich lohnen, erste Positionen am Bosporus aufzubauen. Die Bewertungen sind günstig.

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von Jörg Billina, Euro am Sonntag

Die deutliche Niederlage seines Kandidaten in Istanbul vor drei Wochen hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan schwer getroffen. Der Ausgang der Bürgermeisterwahl lässt sich als Anfang vom Ende seiner bis dato 16-jährigen Regierungszeit zunächst als Minister­prä­sident und später als Staats­präsident deuten. "Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei", hatte Erdogan im Wahlkampf immer wieder betont. Die Metro­pole am Bosporus ist mit 15 Millionen Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt der Türkei und ihr ökonomisches Zentrum. Ein Drittel des türkischen ­Bruttoinlandsprodukts wird dort erwirtschaftet.

Möglicherweise fürchtet der 65-Jährige auch persönliche Konsequenzen, sollten er und seine AKP-Partei die für das Jahr 2023 angesetzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen verlieren. "Er weiß, dass ihn kein ruhiger Lebensabend in Marmaris erwartet, wenn er die Macht abgibt", schreibt Deniz Yücel. Der Journalist der "Welt" saß ein Jahr lang ohne Anklage in der Türkei im Gefängnis.

Zinssenkung noch im Juli


Erdogan ist daher fest entschlossen, die Zügel noch lange in der Hand zu halten. Dazu ist seiner Meinung nach ein fundamentaler Kurswechsel der Notenbank zwingend notwendig. Erdogan macht die "wichtigste Säule der türkischen Wirtschaft" für die herbe Schlappe in Istanbul verantwortlich. Hätte sie, wie von ihm mehrfach angemahnt, die Zinsen gesenkt, wäre seinem ökonomischen Verständnis nach nicht nur die Konjunktur angesprungen. Die Lockerung der Zinsschraube hätte außerdem die Inflation nach unten gedrückt. Und dann hätten auch die Bürger Istanbuls weiterhin mehrheitlich für die AKP gestimmt.

Konsequenterweise und wenig überraschend feuerte Erdogan vergangenen Samstag den Notenbankchef Murat Cetinkaya per Dekret. Um den Verfall der Lira zu stoppen - seit Anfang 2018 verlor die türkische Währung gegenüber dem Dollar 40 Prozent - hatte Cetinkaya die Zinsen im vergangenen September um 625 Basispunkte auf 24 Prozent erhöht. In der Folge sank die Inflationsrate von deutlich über 20 auf 15 Prozent, die Lira gewann wieder an Stärke. In Erdogans Augen war es dennoch die falsche Maßnahme.

Nun soll der bisherige Stellvertreter Murat Uysal Erdogans Forderungen umsetzen. Nach Einschätzung der Landesbank Baden-Württemberg wird Uysal bereits am 25. Juli die Zinsen um bis zu 200 Basispunkte senken.

Auf Ramschniveau


Die Personalentscheidung kam bei Investoren nicht gut an. Türkische Aktien und die Lira tendierten Anfang der Woche schwächer. Der Wechsel an der Spitze der Türkiye Cumhuriyet Merkez Bankası bestätigt Zweifel an ihrer Unabhängigkeit. Eine von politischen Weisungen freie Zentralbank gilt aber als unerlässlich für die Herstellung eines stabilen Preisniveaus.

Nur wenn die Teuerungsrate moderat ausfällt, sind ausländische Investoren bereit, sich zu engagieren. Auf ihre Mittel ist die Türkei angewiesen, um das hohe Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren. Das von den Rating­agenturen inzwischen mit "hochspekulativ" eingestufte Land importiert mehr, als es exportiert.

Dennoch lassen sich Argumente für den Einstieg in türkische Aktien finden. Abgesehen von Erdogans Einmischung: Die gesunkene Inflationsrate eröffnet tatsächlich Spielräume für Zinssenkungen. Der Sieg des CHP-Politikers Ekrem Imamoglu in Istanbul wiederum beweist, dass die Demokratie trotz des zunehmend autoritären Führungsstils Erdogans weiterhin funktioniert. Zum Kauf türkischer Titel motiviert auch die Notwendigkeit wirtschaftlicher Strukturreformen.

"Die AKP-Partei ist eigentlich eine wirtschafts- und investoren­freundliche Partei", sagt Alexan­dre Dimitrov von Erste Spar­invest. "Führende Parteifunk­tionäre dürften die Regierung und Präsident Erdogan nun bedrängen, zu dieser Politik zurückzukehren."

Der Handlungsbedarf ist jedenfalls groß, das Land steckt nicht zuletzt aufgrund einer ­expansiven Fiskalpolitik, aber auch wegen Erdogans Auffassung von Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit in einer handfesten Krise. Ausländische Unternehmen halten sich mit ­Direktinvestitionen zurück. Die Arbeitslosenrate beträgt zwölf Prozent. Im laufenden Jahr wird die gesamtwirtschaftliche Leistung nach Angaben des IWF um 2,5 Prozent schrumpfen.

Aufgrund des Lira-Verfalls fällt es Unternehmen schwer, die in Dollar aufgenommenen Schulden zu bedienen. Die Verbindlichkeiten belaufen sich auf 200 Milliarden Dollar. Gelingt es nicht, die wirtschaftliche Talfahrt zu stoppen und wieder hohe Wachstumsraten zu erzielen, sind die kommenden Wahlen nicht zu gewinnen. Das ahnt wohl auch Erdogan.

Was Investoren ebenso an den Bosporus lockt: Türkische Aktien sind nach heftigen Verlusten günstig bewertet. Das durchschnittliche Kurs-Gewinn-­Verhältnis liegt bei sechs. Nur der russische Aktienmarkt ist derzeit noch billiger.

Ärger mit Washington


Und es fehlt auch nicht an gut gemanagten und expandierenden Unternehmen. Der Hersteller von Haushaltsgeräten Arcelik beispielsweise vertreibt seine Produkte bereits in über 100 Ländern. Um in Asien weiterzuwachsen, erwarb Arcelik zuletzt ein Unternehmen im vielversprechenden Markt Bangladesch. Auch Turkish Airlines ist ein aussichtsreicher Wert. Die Fluggesellschaft profitiert von der Wiederentdeckung der Türkei als Tourismusziel. Im vergangenen Jahr steigerte die Airline ihren Umsatz im Vergleich zum Vorjahr um 58 Prozent.

Ein Kauf ist zudem Tüpras. Für das Öl- und Gasunternehmen erweist sich die Lira-Schwäche als Vorteil.

Allzu stark sollten sich An­leger dennoch nicht engagieren. Denn der Chance steht Erdogans außenpolitischer Kurs als Risiko gegenüber. Das russische Raketenabwehrsystem S-400 soll demnächst nach Ankara ausgeliefert werden. Die Kooperation des NATO-Lands Türkei mit Russland missfällt den USA.

Washington hat Erdogan mit Sanktionen gedroht. Ob sie kommen und wie sie aussehen, ist noch unklar. Es wäre ein weiterer schwerer Schlag für die türkische Wirtschaft, sollte Wa­shington nicht nur die militärische Kooperation, sondern auch den Handel zwischen den beiden Ländern einschränken.

Investor-Info

iShares MSCI Turkey ETF
Erholung möglich


Der Exchange Traded Fund (ETF) bildet die Entwicklung von 16 türkischen Unternehmen ab. Finanztitel wie die Turkiye Garanti Bankasi sind mit 33 Prozent gewichtet. Industriewerte wie die Sabanci Holding bringen es auf 22 Prozent. In den vergangenen drei Jahren verlor der ETF 39 Prozent. Auf Sicht von vier Wochen legte das Indexpapier trotz der jüngsten Korrektur in Reaktion auf den Rauswurf des Notenbankchefs um neun Prozent zu. Ob der Trend anhält, hängt stark von der Politik in Ankara und von den Entscheidungen der Zentralbank ab. Der ETF eignet sich nur für sehr risikobereite Investoren.







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Bildquellen: Luciano Mortula / Shutterstock.com, dgcampillo / Shutterstock.com

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