Brasilien: Wenig Grund zum Jubeln
Der WM-Gastgeber Brasilien gilt als Land des Fußballs. Doch bei Ligaspielen sind die Stadien leer, dafür herrschen Gewalt und korrupte Geschäftemacher. Und vielen Vereinen droht die Pleite.
von Andreas Fink, Euro am Sonntag
Das Spiel ging gegen den Tabellenletzten - und war doch ein Kassenschlager. Innerhalb weniger Stunden war das Erstligaspiel zwischen dem Sport Club Corinthians Paulista und Figueirense ausverkauft. Das lag gewiss nicht an der Faszination des noch punktlosen Aufsteigers aus dem südbrasilianischen Florianópolis. Es war die Magie des historischen Moments: Das Match am vorigen Sonntag war das erste Ligaspiel in einem eigenen Stadion im 103. Jahr der Geschichte des Klubs mit dem Anker im Wappen. Und es war die Feuerprobe für die noch immer nicht ganz fertige Spielstätte, in der am 12. Juni Brasiliens Selecção gegen Kroatien die WM eröffnen wird.
In São Paulos unansehnlichem Osten, inmitten der Armenviertel, thront die Arena Corinthians - auf einem freigeräumten Höhenzug, dessen Bewohner umgesiedelt wurden. Mit seinen silbrigen Seitenfronten wirkt der Baublock wie ein gigantisches Raumschiff, das eben gelandet ist in einer Einöde aus Asphalt, Beton, Abwasserkanälen und Kabelgewirr. Fünf Millionen Menschen leben in der Ostzone von Brasiliens Megalopolis, so viele wie in ganz Norwegen. Ein gutes Drittel davon bezeichnet sich als Fans von Corinthians. Nach Rechnung der Beratungsfirma Pluri verfügen sie zusammen über ein Gesamteinkommen von etwa 100 Milliarden Euro im Jahr, keine andere Gefolgschaft in Brasilien ist so finanzkräftig wie die des einstigen Arbeiterklubs in den schwarz-weißen Trikots.
Und doch hat die Arena nicht mehr als 48 000 Plätze bekommen. Damit das Stadion für die sechs WM-Spiele die von der FIFA geforderten 65.000 Sitzplätze erreicht, mussten Arbeiter zwei provisorische Zusatztribünen zusammenschrauben, die nach der WM wieder abmontiert werden. Doch selbst die fest installierten Plätze sind großzügig kalkuliert, im Vorjahr wäre im Schnitt jeder zweite frei geblieben. Damit rangiert der - nach Flamengo aus Rio - zweitbeliebteste Verein des Landes immerhin deutlich über dem Ligaschnitt, der bei gerade mal 14.900 Zuschauern pro Spiel liegt. Im Land des Rekordweltmeisters gehen also weniger Menschen ins Fußballstadion als in den fußballverachtenden USA. Selbst die deutschen Zweitligaklubs ziehen mehr Fans an.
Der wichtigste Grund für dieses Paradoxon ist direkt vor dem Stadiontor zu erfahren: Dort lehnen João, Sérgio und Moacyr an einem Kipplaster und paffen Feierabendzigaretten. Werden sie auch im Stadion sein, wenn dort der Ball rollt? "Das kann ich mir niemals leisten. Wir drei hier verdienen etwas mehr als den gesetzlichen Mindestlohn." Dieser liegt bei 724 Reais, umgerechnet etwa 240 Euro. "Für uns gibt es Fußball höchstens im Fernsehen." Doch die meisten Spiele laufen im Pay-TV. Ist das nicht auch teuer? João grinst. Er habe technisch versierte Nachbarn, sagt er.
Angst vor Gewalt
Die hohen Preise sind nicht der einzige Grund für die Unlust vieler Brasilianer, live an Ligaspielen teilzunehmen. Auch die verbreitete Gewalt in den Stadien, späte Anpfiffzeiten und unzureichende Verkehrsanbindungen bremsen die Begeisterung. Allein im Vorjahr kamen bei Konflikten 30 Menschen ums Leben, zum Ligaauftakt vor fünf Wochen starb ein Fan in der Arena Pernambuco - der Spielstätte, in der die deutsche Mannschaft am 26. Juni gegen die USA antritt. Häufig starten die Spiele erst nach 22 Uhr, zu so später Stunde wagen sich jedoch nur noch Hartgesottene auf die Straße: Mit über 50.000 Morden pro Jahr ist Brasilien eines der gefährlichsten Länder der Erde. Viele Fans überlegen zweimal, ob sie um diese Zeit den Weg in Gegenden wie Itaquera wagen, wo die Arena Corinthians steht. Denn auch an der schlechten Erreichbarkeit vieler Stadien hat die bevorstehende WM nichts geändert.
Schlechte Verbindung
Nur drei Spielorte haben ihre Stadien ans Bahnnetz angeschlossen, weitere Projekte wurden entweder nicht fertig oder vorzeitig abgeblasen. Expräsident Lula reagierte vorige Woche gereizt auf die Frage nach den nicht realisierten Anbindungen: "Das ist doch alles dummes Gerede! Wir Brasilianer sind immer zu Fuß zum Stadion gelaufen." Ausgerechnet zu Lulas erklärtem Lieblingsverein muss allerdings inzwischen niemand mehr zu Fuß laufen, denn São Paulos U-Bahn Linie 3 endet nun in "Corinthians Itaquera".
Für die Zukunft des Vereins ist die Verkehrsanbindung ein Wettbewerbsvorteil, wie auch der Umstand, dass die Arena dem Klub gehört. Durch das vom Stadion der Dallas Cowboys abgekupferte Multifunktionskonzept ist der Neubau mit VIP-Logen auch für Konzerte und kleinere Events wie Hochzeiten oder Betriebsfeste nutz- und mietbar. Fernando Ferreira, Direktor der Beratungsfirma Pluri, sieht künftig eine ökonomische Zweiteilung: "Wer kein eigenes oder ein altes Stadion hat, bleibt zurück."
Hohe Mieten belasten
Vor allem werde es die vier Klubs aus Rio treffen - Flamengo, Botafogo, Fluminense und Vasco da Gama -, die künftig die Miete für das riesige und damit sündteure Stadion Maracanã aufbringen müssen. Weitere Eigentümer moderner Stadien sind der derzeitige Tabellenführer Internacional aus Porto Alegre, dessen Lokalrivale Grêmio, Atlético Paranaense aus Curitiba und Palmeiras aus São Paulo. "In zwei Jahren werden die Bilanzen zeigen, wer hier wer ist", sagt Pluri-Chef Ferreira.
Bislang zeigen die Bilanzen vor allem rote Zahlen. Nach Berechnungen der Unternehmensberatung BDO lagen die Gesamtschulden der 13 größten Vereine 2012 bei 4,7 Milliarden Real, damals etwa 1,7 Milliarden Euro. Ein erheblicher Teil der Verbindlichkeiten summiert sich aus unbezahlten Steuern, manche Vereine haben mehr als 70 Millionen Miese beim Fiskus. Dabei könnte der Staat pro Jahr 65 Millionen Euro Steuern von der Vereinen einnehmen - und bezieht bis heute fast nichts, meldete die Tageszeitung "Folha de S. Paulo".
Obwohl die Einnahmen der Liga in Brasiliens Boomjahren von 2007 bis 2012 um 35 Prozent auf umgerechnet 880 Millionen Euro gestiegen sind, wuchsen die Verbindlichkeiten vieler Klubs noch schneller. Nur wenige Vereine gaben das Geld strategisch aus, wie etwa der Club Corinthians, der für die Arena 250 Millionen Euro aufnahm, die er binnen sieben Jahren refinanzieren will. Andere Vereine, wie der Lokalrivale Palmeiras, investierten in teure Spieler und Trainer wie den jetzigen Nationalcoach Luiz Felipe Scolari, der Millionen einstrich und Palmeiras, auf den vorletzten Tabellenplatz abgerutscht, 2012 verließ.
Wie so häufig stinkt auch in der brasilianischen Liga der Fisch vom Kopf: Bis heute verweigert der Verband CBF den Aufbau professioneller Strukturen, oft werden die Vereine von eigennützigen Geschäftemachern geführt, die nicht für ihre Entscheidungen haften müssen. Dabei hat es an Einnahmen nie gemangelt, allein die Spielerverkäufe nach Europa brachten in den letzten acht Jahren mehr als eine Milliarde Euro.
Gelder im Steuerparadies
Ein erheblicher Teil dieser Deals wurde über Steuerparadiese abgewickelt. Nach Angaben der Zentralbank wurden im Zeitraum 2002 bis 2012 Transfergeschäfte von mehr als 190 Millionen Dollar über Konten auf Grand Cayman und anderen karibischen "Waschanlagen" abgewickelt.
Vorige Woche nahm sich Brasiliens Präsidentin Zeit für ein wenig Nachhilfeunterricht in Sachen Fußball. Dilma Rousseff lud die zehn führenden Sportjournalisten des Landes zum Abendessen ein und fragte nach Ansatzpunkten, um die mafiösen Strukturen in den Vereinen aufzubrechen. "Der Zeitpunkt ist jetzt", wurde sie von einem Teilnehmer der Runde zitiert. Fraglich bleibt, ob das so einfach wird.
Brasiliens Verband CBF, der lange vom späteren FIFA-Boss João Havelange und dessen Schwiegersohn Ricardo Teixeira wie ein Selbstbedienungsladen geführt wurde, ist nach Teixeras Flucht nach Florida 2012 immer noch unter Kontrolle des Ancien Régime. "Es ist sogar noch schlimmer geworden", urteilt Brasiliens bekanntester Sportkolumnist Juca Kfouri. "Der moralische Habitus ist identisch wie zuvor, aber nun kommt erschwerend hinzu, dass CBF-Präsident José Maria Marin mit der Militärdiktatur verbandelt war." Präsidentin Rousseff, die als junge Frau drei Jahre lang in der Folterhaft der Militärs gefangen war, beschränkt den Kontakt mit Marin auf das Notwendigste. Ihr nächstes Aufeinandertreffen werden jedoch Milliarden Menschen mitverfolgen können: bei der Eröffnungsgala zur Fußball-WM in der Arena São Paulo. So wird das Stadion heißen, solange die FIFA das Kommando führt.
Die Premiere der Corinthians-Arena ging übrigens ordentlich schief. Erst ging ein Hagelsturm über São Paulo nieder. Und dann verlor Corinthians auch noch 0 : 1 - gegen den Tabellenletzten.
Fünf Fakten Zum Fußball in Brasilien
Jahresumsatz der Liga: 880 Millionen Euro (2012)
Durchschnittlicher Eintrittspreis 1. Liga: 15 Euro (2012)
Durchschnittliche Zuschauerzahl pro Spiel 1. Liga: 14 900 (2013)
Teuerster einheimischer Spieler: Neymar Jr. : 190 Millionen*
Jährliche Einnahmen der Liga durch Fernsehgelder: 400 Mio.
* als Ausstiegsklausel im Vertrag festgeschrieben
Investor-Info
Brasiliens Wirtschaft
Es läuft nicht rund
Brasiliens Konjunktur hat sich - nach den Boomjahren von 2003 bis 2008 - deutlich verlangsamt. Mangelnde Reformen und die nachlassenden Rohstoffpreise haben stark auf das Wachstum gedrückt. Experten rechnen für 2015 sogar mit einer Rezession. Gleichzeitig leidet die Bevölkerung, die im vergangenen Jahrzehnt stark vom Aufschwung profitiert hat, zunehmend unter Korruption und Inflation.
BNY Mellon Brazil Equity
Schon heute Wahlsieger
Brasiliens Börse ist in den vergangenen Monaten angesprungen. Grund: Investoren wetten, dass Dilma Rousseff bei der Präsidentenwahl im Oktober ihr Amt verliert, danach Reformen in Gang kommen. Eine gewagte These, die dem BNY Brazil Equity, aber Auftrieb gibt. Nur für spekulative Anleger.
WM-Zertifikat
Mit Brasilien gewinnen
Eine hochspekulative Wette auf den WM-Titel für Brasilien - möglich ist das mit Fußballzertifikaten, die an der Börse Berlin oder der Tradegate Exchange gehandelt werden. Sie können wie Aktien
jederzeit ge- und verkauft werden. Auf jede der 32 WM-Mannschaften hat die Extra Sportwetten AG ein Zertifikat emittiert. Das Papier auf den Top-Favoriten Brasilien (ISIN: AT 000 0A1 7BC 3) kostet etwa
31 Euro. Holen die Südamerikaner den Titel, erhalten Inhaber des Zertifikats Mitte Juli nach dem
Finale 100 Euro zurück. Das entspricht einem Gewinn von 221 Prozent. Vorsicht: Schafft Brasilien den WM-Sieg nicht, ist der Einsatz verloren.