Spannendes Schwellenland

Chile: Hinter den Bergen tut sich was

22.11.13 17:00 Uhr

Michelle Bachelet wird die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Wie stark sie das Land reformieren und alte Strukturen aufbrechen kann, ist allerdings offen. Dafür braucht ihre bunte Koalition starke Mehrheiten.

von Andreas Fink, Euro am Sonntag

Hinter den hohen Bergen, da liegt ein Land, das alles richtig gemacht hat, sagen die einen. Ein Land, das die Armutsquote von 50 auf 15 Prozent senken konnte. Dessen Durchschnittseinkommen sich binnen 23 Jahren fast verfünffacht hat. Wo die Arbeitslosenrate nur 5,7 Prozent beträgt und die Inflation bei noch beherrschbaren sieben Prozent liegt. Dessen wirtschaftsfreundliche Gesetze Investoren aus aller Welt anziehen und das sich dem freien Welthandel verschrieben hat.

Hinter den hohen Bergen liegt ein Land, das sich ändern muss, sagen die anderen. Das mehr Bürgern Zugang zu Bildung ermöglichen, den Wohlstand gerechter verteilen und auch von Superreichen Steuern eintreiben soll. Ein Land, das sich endlich des Erbes der Diktatur entledigen muss, 23 Jahre nach dem Abgang der Militärs.

Michelle Bachelet (62) ist die Frau, die beide Positionen verkörpert. Als Präsidentin steuerte sie Chile von 2006 bis 2010 auf liberalem Wachstumskurs und brachte es heil durch die Wellen nach der Finanzkrise. Jetzt kandidiert sie erneut, um den rechtsgerichteten Präsidenten Sebastián Piñera abzulösen — und um das Land massiv zu reformieren.

Die Kinderärztin, Sozialistin, Feministin wird das neue Chile führen, das besagen alle Umfragen seit Monaten. Die einzige offene Frage ist, ob die unverheiratete dreifache Mutter und zwischenzeitliche Chefin der UN-Frauenorganisation (UN Women) gleich im ersten Wahlgang diesen Sonntag mehr als die Hälfte der Stimmen einfährt. Die hohe Zahl von Gegenkandidaten (sechs Männer und zwei Frauen) könnte ihren Durchmarsch verhindern. Dann müsste eine Stichwahl am 15. Dezember entscheiden.

Große Ungleichheiten
„Chile de todos“ lautet der Slogan, den sich Bachelets Berater ausgedacht haben — „Chile für alle“ steht für das Versprechen der 62-Jährigen, die krassen Ungleichheiten in ihrem Land abzumildern.
Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) besitzen in dem Andenstaat die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung 27-mal mehr als die ärmsten zehn Prozent. Innerhalb des OECD-Raums meldet nur Mexiko ein ähnliches Missverhältnis.

Obwohl Chiles weitgehend privatisiertes Bildungssystem die zweithöchsten Studiengebühren aller OECD-Staaten eintreibt, lag das Land in internationalen Bildungsvergleichen hinter Ländern wie Tunesien oder Kasachstan.

„Bildung ist keine Ware“, skandierten Studenten vergangene Woche. Bachelets Pläne sind tiefgreifend. Binnen sechs Jahren soll das kommerzielle Ober- und Hochschulwesen wieder staatlich und kostenfrei werden. Um das zu finanzieren, will Bachelet das Steuersystem refor­mieren. Innerhalb von vier Jahren soll die Unternehmensteuer von 20 auf 25 Prozent steigen, gleichzeitig der Spitzensteuersatz für Einzelpersonen von 40 auf 35 Prozent sinken.

Vor allem will die Sozialistin aber einen Sumpf austrocknen, den die Militärs für ihre Amigos aus dem Establishment anlegten: Anstelle alle Steuern an den Staat zu entrichten, können Unternehmer einen Teil ­ihrer Abgaben an den „Fondo de Utilidades Tributarias“ zahlen. Dort nähren sie zumeist Fantasiefirmen, deren Steuerleistung sich unbeschränkt hinauszögern lässt. Ende 2012 waren in dem Topf etwa 216 Milliarden Dollar gebunkert, das entspricht drei Viertel des Brutto­inlandsprodukts des Vorjahres. De facto ist der Fonds ein Steuerhinterziehungsinstrument, das bewirkt, dass Unternehmen nicht 20, sondern nur 15 Prozent abgeben.

Mächtige Feinde
Dass sie sich mit ihren Plänen mächtige Feinde einhandelt, weiß die Kandidatin, die deshalb die Chilenen inständig bittet, sie an den Urnen zu unterstützen. Vor allem bei den gleichzeitigen Wahlen zu Kongress und Senat braucht ihre Koalition, in der sich ein multiideologischer Regenbogen von Kommunisten bis zu Christdemokraten zusammengeschlossen hat, eine massive Überzahl an Stimmen, um die Mehrheitsverhältnisse in beiden Häusern zu ändern. Denn das Wahlsystem, auch das ein Pinochet-Erbe, bevorzugt die zwei Parteien der konservativen Alianza.

Dieses ungerechte und kaum reformierbare Wahlsystem, das alles andere repräsentiert als den Volkswillen, gehört zu den wichtigsten Gründen für den Verdruss der Chilenen mit ihren Staatsorganen, der sich inzwischen fast täglich in Demonstrationen und Protesten manifestiert. Michelle Bachelet will auch die von den Militärs hinterlassene und mehrfach geänderte Verfassung umschreiben. Doch dafür brauchte sie satte Mehrheiten — zwei Drittel, drei Fünftel und vier Siebentel, je nach Paragraf.

Natürlich fehlt es nicht an Stimmen, die einen „Linksruck“ prophezeien. Vor allem der Eintritt der Kommunistischen Partei (KP) in die Koalition ist für die Machtelite ein Fanal. Axel Kaiser, Direktor des ul­traliberalen Thinktanks Fundación para el Progreso, warnt vor einem „Ende des chilenischen Wirtschaftswunders“, vor „radikalen Änderungen des ökonomischen Systems“ und vergleicht Bachelet mit dem glücklosen und schließlich von den Militärs weggeputschten Präsidenten Salvador Allende.

Das ist bizarr und doppelt boshaft, denn Bachelets Vorschläge sind keineswegs vergleichbar mit den Verstaatlichungskampagnen Allendes. Zudem weiß in Chile jedermann, dass ihr Vater — ein General, der sich nicht den Putschisten anschließen wollte — in der Folterhaft der Militärs starb. Dass sie und ihre Mutter von Augusto Pinochets Schergen gefoltert und vertrieben wurden. Und dass ihre konservative Gegenkandidatin Evelyn Matthei nicht nur Bachelets Jugendfreundin war, sondern ausgerechnet die Tochter jenes Junta-Generals, dem die Militärschule unterstand, in welcher ihr Vater gefangen und gequält wurde.

Lob von den Banken
Aus größerer Distanz lösen Bachelets Pläne nicht so große Hysterien aus. Die US-Bank JP Morgan beispielsweise lobt „die Betonung des Wirtschaftswachtums“, ihre „marktfreundlichen Ideen“ und die „steuer­politische Verantwortung“. Ab 2018, wenn die Steuerreform weitgehend umgesetzt sein soll, strebt Bachelet einen ausgeglichenen Haushalt an.

Auch die Banco Santander sieht die Steuerpläne der Sozialistin positiv. Wie in Brasilien mangele es in Chile an gut ausgebildeten Fachkräften, so Claudio Melandri, Chile-Chef des spanischen Geldhauses. Deshalb sei eine verbesserte Ausbildung grundsätzlich positiv. „Würden die Steuern erhöht ohne ein klares Ziel, dann wäre ich besorgter. Aber wenn es ein gutes Erziehungsprojekt gibt, dann sehe ich kein Problem.“ Hinter den hohen Bergen stehen also viele Veränderungen an. Mit welcher Mehrheit Bachelet diese ­ angehen kann, werden die Wahlen zeigen.

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Chile
Land der Extreme

Chile ist doppelt so groß wie Deutschland und das Land mit der weitesten Nord-Süd-Ausdehnung. Sein Staatsgebiet umfasst 38 Breitengrade. Es hat die trockenste Wüste und die aktivsten Vulkane der Erde. Ein Großteil der gut 17 Millionen Einwohner lebt zwischen Haupt- und Küstenkordillere, fast die Hälfte aller Chilenen besiedelt den Großraum Santiago. Die Wirtschaft ist international integriert, das Land hat 22 Freihandelsabkommen mit 60 Staaten geschlossen. Obwohl die Wirtschaftsstruktur zu über 60 Prozent aus Dienstleistungen besteht, ist das Land von Rohstoffexporten abhängig. Fast 20 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Kupferexport. Das Finanzsystem gilt als solide, die Währung (Peso chileno) erwies sich während der Dollarschwäche der vergangenen Jahre sehr als robust. Ein Ausgleichsfonds sichert das Land vor Kursstürzen. Die Korruptionsindizes sind die niedrigsten in ganz Lateinamerika. Das Jahresdurchschnittseinkommen ist mit 18 700 Dollar das höchste Südamerikas, doch die Unterschiede sind enorm. Etwa 60 Prozent der Einwohner verdienen nicht besser als die Menschen in Angola.