Interview

Ifo-Chef Sinn: Wir müssen den Griechen den Geldhahn zudrehen

aktualisiert 16.05.11 13:41 Uhr

Hans-Werner Sinn ist einer der einflussreichsten Volkswirte in Deutschland – auch, weil er keine Scheu vor deutlichen Worten hat. Der ifo-Chef über den Boom in Deutschland, die Schuldeproblematik und die Energiewende.

von J. Spiering und Frank-B. Werner, Euro am Sonntag

€uro am Sonntag: Herr Professor Sinn, Deutschland war der kranke Mann Europas und hat sich selbst aus dem Sumpf gezogen. Ist das ein Beispiel für andere Länder?
Hans-Werner Sinn:
Ja sicher, Deutschland hat vor 15 Jahren am stärksten unter dem Korsett des Euro gelitten. Die Anpassung der Wettbewerbsfähigkeit musste intern erfolgen, und tatsächlich hat Deutschland in dieser Zeitspanne im Euroraum handelsgewichtet um 21 Prozent abgewertet. Aber das geschah notgedrungen, weil in Deutschland nicht mehr investiert wurde und das Kapital ins Ausland floss. Bis zur Finanzkrise hatten wir unter dem Euro die niedrigste Nettoinvestitionsquote aller OECD-Länder, und bis 2006 hatten wir eine Massenarbeitslosigkeit.

Welches Kapital meinen Sie?
Das Kapital der Sparer. In den vergangenen zehn Jahren betrug die Sparsumme gut 1.500 Milliarden Euro. Davon flossen über 1.000 Milliarden ins Ausland, nur etwa 500 Milliarden blieben im Land. Das ist schon eine extreme Zahl, wenn eine Volkswirtschaft nur ein Drittel ihrer Ersparnisse zu Hause investiert.

Zumal das Geld im Ausland falsch angelegt wurde.
Richtig, es sind ja nicht nur wettbewerbsstärkende Niederlassungen in Osteuropa gegründet worden. Vier Fünftel des Geldes waren reine Finanzanlagen. Man hat US-Hypothekenpapiere, griechische Staats­anleihen, Schuldverschreibun­gen irischer Banken und vieles mehr gekauft. Das hat uns nun gar nicht geholfen. Zum Glück hatten wir eine leistungsfähige Exportwirtschaft, die auf die durch die deutsche Standortkrise erzwungene Verbilligung der deutschen Produkte elastisch reagierte. Ohne sie wäre der Aderlass an Kapital zum Fiasko geworden.


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Was waren die Erfolgsrezepte?
Bis zur Finanzkrise war da nicht viel Erfolg. Wir hatten in Eu­ropa unter dem Euro bis dahin die zweitniedrigste Wachstumsrate aller Länder. Allerdings verbesserte sich die Situation nach der Agenda 2010. Erst nach der Finanzkrise gelang es Deutschland, zur Wachstums­­­lo­komotive in Europa zu werden. Das Kapital traut sich nun nicht mehr ins Ausland und sucht im Inland nach Investitionsmöglichkeiten. Das Wachs­tum 2010 wurde vor allem vom Investitionsboom getragen. Der Außenhandel kam erst an zweiter Stelle.

Unser Boom ist in der Finanzkrise begründet?
Ja, wir haben diesen extra starken Boom wegen der Finanzkrise. Die deutschen Banken und Versicherungen trauen sich mit ihrem Geld nicht mehr in andere Länder. Deren Anlagenotstand ist noch vor dem Außenhandel der wichtigste Grund für den deutschen Boom.

Was darf nicht passieren, damit wir unsere Wettbewerbsfähigkeit verlieren?
Wir dürfen den Anlagenotstand nicht künstlich beseitigen, indem wir in beliebigem Umfang öffentliche Garantien für die Defizit­finanzierung der Problemländer geben - auch nicht im Rahmen der europäischen Rettungssysteme. Wir dürfen also die Selbstkorrektur der Kapitalmärkte, die durch die Finanzkrise eingetreten ist, nicht aufheben, indem wir die Risiken einzelner Euroländer vergemeinschaften durch Euro-Anleihen, übermäßig voluminöse Rettungsprogramme und Ähnliches.

Sind Sie etwa gegen Rettungsprogramme?
Nein. Nur was bislang vereinbart wurde, scheint mir jegliches vernünftige Maß zu überschreiten. Wenn wir unsere Bonität den Konkurrenten auf den Kapitalmärkten schenken, bis die Zinsaufschläge, die sie derzeit zahlen müssen, verschwinden, fließt das deutsche Sparkapital wieder bedenkenlos ins Ausland und der Boom erlischt. Es ist für unsere Volkswirtschaft besser, wenn das Kapital in Deutschland statt im Ausland investiert wird, obgleich die Auslands­investition Exportüberschüsse nach sich zieht. Das Ausland will, dass wir die Überschüsse abbauen, indem wir unsere Lohnstückkosten erhöhen. Da ist es doch viel besser, wir bauen sie ab, indem wir die Ersparnisse zu Hause investieren.

Wie könnten die Problemländer gerettet werden?
Rettung heißt nicht, die privaten Kreditströme, die nicht mehr in diese Länder fließen, weiterhin durch öffentliche Kreditströme zu ersetzen, wie es in den vergangenen drei Jahren geschehen ist und während der Weltwirtschaftskrise vertretbar war. Die Bundesbank hat im Rahmen der Target-Kredite etwa 100 Milliarden Euro pro Jahr, über 300 Milliarden insgesamt, an die Länder der südwestlichen Peripherie gegeben und damit deren Defizite finanziert. Die EZB hat aber nur noch einen Spielraum von zwei Jahren, um diese Form der Kreditverlagerung fortzusetzen.

Weshalb jetzt die Luxemburger Fonds die Kreditvergabe der EZB ersetzen sollen.
Richtig. Das eine Hilfsprogramm ist erschöpft, und nun muss das nächste hinterherkommen. Wenn das so weiter geht, bauen die Problemländer immer mehr Auslandsschulden auf, und Europa entfernt sich immer mehr von der Lösung seiner Probleme. Entweder zerbricht es daran, oder wir kommen in eine Transferunion hinein, in der zum Schluss die Kredite der Geberländer zu Geschenken werden.

Was muss stattdessen passieren?
Man muss den Geldhahn kon­trolliert zudrehen. Nicht zu hastig, aber mit fester Hand. Unsere Vorstellung entspricht im Prinzip einem Planinsolvenzverfahren. Das würde bedeuten, dass man die Probleme bei der Rückzahlung von Schulden scheibchenweise abarbeitet je nach Fälligkeit der Schulden. Es gibt nicht den großen Staatsbankrott, bei dem alle Papiere, gleich welcher Fälligkeit, auf den Tisch kommen. Sondern es werden nur jene Papiere behandelt, die als nächstes fällig werden. Dann gibt es einen Haircut, Staatsanleihen werden an die Investoren also nicht in voller Gänze zurückgezahlt. Nach dem Haircut werden die­se Papiere durch neue Anleihen ersetzt, die dann von der Staatengemeinschaft besichert werden, allerdings nur zu 80 Prozent.

Also doch eine staatliche Garantie?
Schon. Ich bin ja nicht gegen Hilfen. Die Besicherung der Ersatzpapiere, die nach dem Haircut kommen, bedeutet, dass die Käufer der Papiere wissen, dass sie ein Risiko haben. Sie können einen Teil ihres Vermögens verlieren, aber eben nicht alles. Dadurch erhalten wir eine Art kollektive Versicherung der Anleger gegen Insolvenz von Staaten, die aber keine Vollkaskoversicherung ist, sondern eine mit Selbstbehalt. Die Totalinsolvenz wäre erst einmal vermieden, aber den Ländern wird unwiderruflich klar gemacht, dass sie sich zu radikalen Lohnsenkungen und Steuererhöhungen durchringen müssen. Selbst Griechenland würde unter solchen Bedingungen in der Lage sein, neue Anleihen zu platzieren. Freilich wollen wir die Garantien auf einen bestimmten Anteil der Wirtschaftsleistung begrenzen.

Ist der Austritt Griechenlands aus dem Euroraum eine Lösung?
Einfache Lösungen für Griechenland gibt es nicht mehr. Wenn sie austreten, sind die Banken tot; wenn sie drinbleiben und sich an den versiegenden Kreditfluss anpassen, treiben sie ihr Land an den Rand des Bürgerkriegs und ruinieren ihre Firmen. Die Situation ist ähnlich wie in Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, als Deutschland wegen der Dawes- und Young-Pläne nicht abwerten durfte und zu einer Defla­tionspolitik gezwungen war.

Wie sehen Sie die weitere Zinsentwicklung?
Trotz der nun zu erwartenden Zinssteigerungen werden wir am kurzen Ende nicht zu den Zinsen früherer Boomperioden zurückkehren. Und zwar aus einem einfachen Grund: Weil die kriselnden Südländer keine hohen Zinsen vertragen würden und im Zentralbankrat auch über hinreichende Stimmgewichte verfügen, um ihre Position durch­zusetzen.

Was bedeut das für Deutschland?
Dass wir langfristig der Gefahr einer Überhitzung ausgesetzt sind.

Klingt nicht gut.
Ist auch nicht gut. Die deutsche Wirtschaft brummt schon jetzt gewaltig. Wir bräuchten eigentlich höhere Zinsen, um die Lage zu beruhigen. Die Löhne werden steigen, die Immobilienpreise auch, und wir bekommen eine allgemeine Preissteigerung. Ich würde es aber nicht Inflation nennen. Inflation wäre, wenn im gesamten Währungsraum die Preise stiegen. Das wird aber nicht der Fall sein. Einzelne Länder werden ihre Preise sogar senken müssen. Stattdessen werden wir einen relativen Preiseffekt sehen, Deutschland wird relativ zu den anderen Ländern aufwerten.

Droht eine Blase?
Langfristig schon. Aber so etwas dauert manchmal mehr als ein Jahrzehnt. Vielleicht baut sich dann eine Blase auf. Die ersten Jahre einer Blase sind meistens sehr angenehm. Die Regierung hat in einer solchen Lage eine hohe Verantwortung. Sie muss große Budgetüberschüsse bilden, um die Wirtschaft zu kühlen und ein Platzen der Blase zu verhindern. Das fällt politisch außerordentlich schwer, weil man die Überhitzung als gesundes Dauerwachstum interpretiert, das auf die hohe Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zurückzuführen ist.

Wie sehen Sie die Entwicklung in der Energiepolitik? Ohne Atomkraftwerke lassen sich die Klimaziele nicht erreichen und die Strompreise werden steigen.
Den Anstieg der Strompreise wird man durch den Import von billigem Atomstrom aus dem Ausland in Schach halten können. Wenn man das nicht will und die Verbraucher stattdessen zwingt, teuren grünen Strom zu kaufen, dann geht es an die Substanz. Dann wird das Konsumwachstum abgebremst werden. Sonnenstrom und Windstrom sind leider kein leistungsfähiger Ersatz für Atomstrom, und das Potenzial, die Energieversorgung Deutschlands von den fossilen Brennstoffen zu lösen, haben sie schon rein gar nicht.

Mit Sonne nicht, aber mit Wind vom Meer schon.
Nein, die Leute haben völlig falsche Vorstellungen, was mit erneuerbaren Energien möglich ist. Mit Wind lässt sich nicht Strom in großindustriellem Maßstab produzieren. Windstrom macht gerade mal 1,4 Pro­zent am Energieverbrauch aus, obwohl die Windanlagen nirgends so dicht stehen wie in Deutschland.

Auf hoher See kommt man mit dem Windstrom schon weiter.
Nein, auch dort stehen die Windräder mal still. Zumindest bläst der Wind unregelmäßig. Der Strom, der in den Windanlagen erzielt wird, ist ziemlich wertlos. Er ist viel zu stochastisch, als dass man die Kilowattstunden, die herauskommen, einfach den Kilowattstunden Atom- oder Kohlestrom gleichsetzen kann. Wenn sonntagmorgens viel Wind herrscht, dann haben wir viel zu viel Angebot an Strom, das überhaupt nicht verwertbar ist. Mehrmals im Jahr ist des­halb schon jetzt der deutsche Strompreis negativ. Windstrom muss zwingend mit Gaskraftwerken ergänzt werden, welche die Flautezeiten überbrücken können. Die über­schüssige Windenergie wird dann quasi in den Gasleitungen gespeichert. Einen Teil der Fixkosten der auf Abruf bereitstehenden Gaskraftwerke ist dabei dem Windstrom zuzurechnen.

Das hat man bei Atomenergie auch.
Nein.

Doch, die Meiler laufen nachts unter Volldampf, so dass der Überschuss billig exportiert und am nächsten Tag teuer importiert werden muss.
Strom, der stochastisch und mit den Verbrauchsspitzen unkorreliert ist, ist wesentlich weniger wert als ein gleichmäßiger Strom. Am wertvollsten ist Strom, der kurzfristig für die Abdeckung von Belastungsspitzen zur Verfügung steht. Das ist Gasstrom und Strom aus Pumpspeicherwerken. Die Wind­strom­­idee ist träumerisch, romantisch, wirklichkeitsfern und ideologisch. Es ist völlig unmöglich, den Energiebedarf eines Hochindustrie­landes aus Wind und Sonne zu speisen.

Also alle Atomkraftwerke laufen lassen?
Man muss die Sicherheitsstandards verbessern, aber einheitlich in ganz Europa. Dass nur wir abschalten und dafür dem Fallout französischer Atomkraftwerke ausgesetzt sind, macht keinen Sinn. Ich bin dezidiert gegen eine inhaltliche Konstruktion der Zukunft. Ökonomen mö­gen das nicht. Ökono­men mögen Rahmenbedingungen, in denen sich Märkte entwickeln können. Bei der Atomkraft müssen wir die Kosten, welche der Gesellschaft in Form von Risiken auf­gebürdet werden, durch Haftpflichtversicherungsysteme internali­sieren.

Das bedeutet?
Es geht ja in erster Linie um Vermögensschäden. In Japan ist noch kein einziger Mensch wegen der Atomstrahlung gestorben. Aber die Vermögensschäden sind riesig, weil ganze Landstriche nicht mehr bewohnbar sind. Also muss es doch möglich sein, ein Versicherungs­system zu entwickeln, welches solche Risiken abdeckt. Man schätzt die Atomschäden in Japan auf 200 Milliarden Euro. Das ist weniger als ein Prozent des weltweiten Marktes für CDS-Versicherungen. Vor der Finanz­krise war der Markt sogar doppelt so groß. Es sollte möglich sein, solche Versicherungsmärkte zu entwickeln. Man könnte auch Märkte für Cat-Bonds schaffen, also Wertpapiere, die ihren Wert in dem Maße für die Schadensbegleichung verlieren, wie Atomschäden anfallen. Da solche Bonds Risiken abdecken, die nicht mit normalen Anlagerisiken korreliert sind, werden die Fondsgesellschaften an ihnen ein hohes Interesse haben. Wenn sich dann herausstellt, dass die Versicherungsprämien so hoch sind, dass es sich nicht lohnt, das eine oder andere Kernkraftwerk zu betreiben, finde ich das als Ökonom auch in Ordnung.

zur Person:

Hans-Werner Sinn
Ökonom und Ifo-Chef

Der 63-jährige Westfale und dreifache Familienvater ist Inhaber des Lehrstuhls für National-Ökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 1991 leitet er das Center for Economic Studies, seit 1999 ist er Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung.