Schwellenländer: Der große Umbruch
Bullenmärkte werden stets von einer bedeutenden wirtschaftlichen Entwicklung getragen. In den kommenden Jahren könnte der Siegeszug der Schwellenländer dieser Trend sein. Dafür sprechen vier Faktoren, die in Emerging Markets rund um den Globus zu beobachten sind.
Gastautor Nick Price
Wer Geld in Aktien oder Aktienfonds investiert hat, fühlte sich im vergangenen Jahr lange Zeit wie in einer Achterbahn. Bis zum Frühjahr 2010 kletterte der weltweite Index MSCI World auf über 1200 Punkte, dann stürzte er jäh ab – und vollführte bis Ende des Sommers ein ständiges Auf und Ab, um schließlich eine starke Jahresendrally hinzulegen. Der Index beschloss das Jahr bei 1280 Punkten und ist seitdem weiter gestiegen. Anleger fragen sich jetzt, wie es mittel- und langfristig weitergeht. Die zentralen Fragen: Steuern wir auf einen Bullenmarkt zu, in dem die Aktienkurse längere Zeit steigen? Oder befinden wir uns in einer Bärenmarktrally, in der kurzfristige Anstiege nur ein Strohfeuer sind?
Bei der Antwort hilft ein Blick in die Vergangenheit. Yale-Professor Robert Shiller hat die realen Gesamtgewinne im Index S & P 500 seit dem Jahr 1871 ausgewertet. In dieser Zeit gab es vier längere Bullenmärkte, denen jeweils ein kürzerer Bärenmarkt folgte. Alle Bullenmärkte hatten ihre Ursachen in einem großen Trend, in den 1980er- und 90er-Jahren etwa im Siegeszug neuer Computertechnologien und des Internets. Aus dieser Erkenntnis lässt sich folgende Prognose ableiten: Wenn der Markt eine spannende neue Investmentstory findet, steuert er auf einen langfristigen Aufwärtstrend zu.
Die wirtschaftlichen Gewichte
verschieben sich deutlich
Die Suche nach den Anlagethemen des 21. Jahrhunderts lenkt den Blick auf den größten Umbruch, vor dem unsere Welt im Moment steht: Die wirtschaftlichen Gewichte verschieben sich deutlich von den Industrienationen hin zu den Schwellenländern. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren die USA lange unangefochten die wirtschaftliche Supermacht. Doch zuletzt hat das Wachstum der Schwellenländer dieses unipolare Modell ins Wanken gebracht.
China wird sehr wahrscheinlich zur größten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen. Schon 2027 könnte das Land an den USA vorbeiziehen, sagt die Investmentbank Goldman Sachs voraus. Indien dürfte bis dahin fast zu den USA aufgeschlossen haben. Und Brasilien und Russland werden zumindest die wichtigsten europäischen Wirtschaftsmächte überrunden.
Der Siegeszug der Schwellenländer hat gerade erst begonnen. Für die Aktienmärkte bedeutet das: Der Aufstieg der Emerging Markets könnte der nächste große Trend in diesem Jahrhundert sein, der für einen langfristigen Anstieg der Aktienkurse sorgt. Darauf weisen vier Entwicklungen hin, die in beinahe allen Schwellenländern zu beobachten sind. Wir beschreiben dieses Phänomen mit den vier Buchstaben DIRK. Sie stehen für die Faktoren Demografie, Infrastruktur, Rohstoffe und Konsum, die wir hier genauer unter die Lupe nehmen wollen.
Demografie
Viele Industriestaaten sehen sich mit einer ähnlichen demografischen Entwicklung konfrontiert: Die Bevölkerung altert und schrumpft. So soll die Einwohnerzahl Japans von 127 Millionen im Jahr 2007 bis zum Jahr 2047 auf unter 100 Millionen sinken. Entsprechend könnte auch die Wirtschaftskraft schrumpfen.
Ein ganz anderes Bild zeigt sich in Schwellenländern: In Russland, China, Brasilien und der Türkei tritt beispielsweise momentan eine große Gruppe junger Arbeitskräfte ins Erwerbsleben ein. Die Zahl der Menschen im Alter von 15 bis 64 Jahren hat dort gerade ihren Scheitelpunkt erreicht. Eine solche Entwicklung treibt erfahrungsgemäß das Wirtschaftswachstum an – und damit auch den Aktienmarkt der betreffenden Länder. Außerdem erhöht die steigende Einwohnerzahl das Gewicht der Schwellenländer in der globalen Wirtschaft. Schon heute leben 70 Prozent der Weltbevölkerung in Schwellenländern.
Infrastruktur
Die steigende Einwohnerzahl und die wachsende Wirtschaft erhöhen den Bedarf der Schwellenländer an moderner Infrastruktur. Vielerorts ist das schon weithin sichtbar. So ist zum Beispiel das Burj Khalifa in den Vereinigten Arabischen Emiraten mit 828 Metern das höchste Gebäude der Welt. Die Plätze 2 bis 5 belegen ebenfalls Hochhäuser in Emerging Markets.
Zudem müssen Länder wie China laufend ihre Verkehrswege sowie die Strom- und Wasserversorgung ausbauen. Ein Grund dafür: Immer mehr Menschen ziehen vom Land in eine Stadt. So wird die Stadtbevölkerung in Asien bis zum Jahr 2015 um 1,8 Milliarden Menschen wachsen, prognostizieren die Vereinten Nationen. In Afrika werden eine Milliarde Menschen in eine Stadt umsiedeln, in Lateinamerika und der Karibik immerhin 200 Millionen. Entsprechend rasch muss in den Städten die Infrastruktur ausgebaut werden. In Chinas Hauptstadt Peking zum Beispiel wird die U-Bahn auf eine Länge von 581 Kilometern erweitert. Das Streckennetz wird dann 180 Kilometer länger sein als das in London, wo bislang die U-Bahn im größten Netz der Welt verkehrt.
Rohstoffe
Viele Schwellenländer sind reich an natürlichen Rohstoffvorkommen. So besitzt etwa Indonesien riesige Erdgasvorräte und die größte Goldmine der Welt. In Nigeria und Angola befinden sich bedeutende Ölquellen, in Tansania einige der wichtigsten Kupferminen der Welt. Diese Vorkommen bringen nicht nur Devisen in die Schwellenländer, sondern erweisen sich zunehmend als Basis für einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung. Denn der Ausbau der Infrastruktur lockt weitere Industrien an und schafft neue Jobs.
Konsum
Bevölkerungswachstum und Wirtschaftsaufschwung in den Schwellenländern führen dazu, dass eine konsumfreudige Mittelschicht heranwächst. Sie verfügt über sichere Arbeitsplätze und ein festes Einkommen und kopiert zunehmend den westlichen Lebensstil. Die Schwellenländer sind damit nicht länger nur Rohstofflieferanten und Güterproduzenten, sondern mausern sich zu wichtigen Absatzmärkten. Das Potenzial ist enorm. So gibt es in China bereits sechsmal so viele Mobilfunkverträge wie in Deutschland, obwohl dort erst jeder Zweite ein Mobiltelefon besitzt.
Indexfonds bilden oft nur einen kleinen Teil des Markts ab
Die vier DIRK-Faktoren und ihre Auswirkungen auf die Volkswirtschaften der Schwellenländer werden auch den Aktienmärkten in Industriestaaten Aufwind verleihen. Weitaus stärker aber werden die Aktienmärkte der Schwellenländer selbst profitieren.
Anlegern, die die Renditechancen der Emerging Markets gern in ihr Portfolio packen möchten, würde ich nicht empfehlen, in Indizes zu investieren – das gilt für Schwellenländer noch mehr als für Industrieländer. Denn viele Indexfonds bilden nur einen kleinen Teil des Markts ab. Schließlich bestehen viele Aktienindizes in den Schwellenländern nur aus wenigen Titeln, von denen zudem einzelne den Index dominieren. Weiteres Manko: In die bekannten Indizes werden in der Regel Unternehmen mit besonders großem Börsenwert aufgenommen. Wie deren Zukunftsaussichten sind, spielt für die Auswahl allerdings keine Rolle.
Dabei ist bei Schwellenländerinvestments gerade dieser Faktor entscheidend. Überdurchschnittliche Erfolge lassen sich vor allem dann erzielen, wenn man die Zusammensetzung der Schwellenländerindizes sehr genau ansieht und nur in jene Unternehmen investiert, die die Werttreiber im Index sind. Genau diese Aufgaben erledigen aktiv gemanagte Fonds.
Anteil der Bevölkerung mit Wohnsitz in städtischen Gebieten (pdf)
Drang in die Citys
Nach Angaben der Vereinten Nationen lebten 2008 erstmals mehr Menschen weltweit in Städten als auf dem Land. Der Zuzug in Ballungsgebiete wird in Zukunft noch stärker werden.
Allein die Stadtbevölkerung in Asien soll bis 2015 um 1,8 Milliarden Menschen wachsen, die in Afrika um eine Milliarde. Das vergrößert den Bedarf an moderner Infrastruktur. Laufend müssen die Städte ihre Energienetze, ihre Wasserversorgung und ihre Verkehrswege ausbauen. In Peking beispielsweise wird jetzt schon am größten U-Bahn-Netz der Welt gebaut.
zur Person:
Nick Price
Fondsmanager bei Fidelity International
Nick Price ist Manager des Fidelity Emerging Markets Fund und des Fidelity EMEA Fund (Emerging Europe, Middle East and Africa). Er begann 1998 als Aktienanalyst für europäische Titel seine Laufbahn bei Fidelity International. Unter anderem war er Assistant Portfoliomanager des Fidelity European Growth Fund.
Fidelity International wurde 1969 als Unternehmen in Privatbesitz gegründet und ist heute eine auf allen bedeutenden Finanzmärkten aktive Fondsgesellschaft mit einem Fondsvermögen von 187,9 Milliarden Euro. Das Unternehmen beschäftigt über 4500 Mitarbeiter in 26 Ländern in Europa, Nahost, Afrika und der Asien-Pazifik-Region.