Schwellenländer leiden unter demografischer Entwicklung
Die demografische Entwicklung in den BRIC-Nationen verläuft sehr unterschiedlich. Das hat Einfluss auf das langfristige Wachstumspotenzial.
von Andreas Hohenadl, Euro am Sonntag
Warum legen die Chinesen so viel Geld auf die hohe Kante? Für viele Ökonomen ist der Grund für die extrem hohe Sparquote des Landes evident: Wegen des rudimentären Renten- und Gesundheitssystems müssten die Bürger selbst vorsorgen und bildeten deshalb Finanzpolster. Doch es gibt noch eine andere Erklärung: Der Frauenmangel ist schuld. Das behaupten zumindest zwei Ökonomen von der Columbia University in einer unlängst erschienenen Studie. Während in China vor 30 Jahren noch 106 neugeborene Jungen auf 100 Mädchen kamen, waren es 2007 bereits 124 Jungen auf 100 Mädchen. Statistisch betrachtet muss sich heute mehr als ein Fünftel aller chinesischen Männer auf lebenslange Ehelosigkeit einstellen.
Um diesem Schicksal zu entgehen, versuchen viele ledige Männer mit hohen Ersparnissen ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt zu verbessern. Die Eltern und Verwandten sparen jeweils mit, sodass sich ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ergibt. Die Studie zeigt, dass die Sparrate genau in jener Zeit kräftig anstieg, als die Geschlechterlücke für viele deutlich spürbar wurde. Der Männerüberschuss ist nur eines der Probleme, die die 1979 beschlossene Ein-Kind-Politik mit sich brachte. Da chinesische Familien traditionell männlichen Nachwuchs bevorzugen, führte Beijings Dekret dazu, dass in dem Land seither zahllose Mädchen abgetrieben wurden. Noch weit folgenreicher dürfte jedoch eine andere Konsequenz der Geburtenkontrolle Chinas sein: Die Gesellschaft folgt in den kommenden Jahrzehnten dem Weg der Industrienationen und überaltert. Bis Mitte des Jahrhunderts wird ein Drittel der chinesischen Bevölkerung älter als 60 Jahre sein. Das sind dreimal so viele alte Menschen wie heute.
Bevölkerungszunahme als Wachstumstreiber
Doch das Riesenreich steht mit diesem Problem nicht allein – es wird auch andere BRIC-Nationen treffen. „In China und Russland wirkt sich die Demografie bereits tendenziell negativ auf das Pro-Kopf-Wachstum aus oder wird dies in Kürze tun“, sagt Markus Jäger, Schwellenländerexperte der Deutschen Bank. „Viele denken noch immer, dass sich die Bevölkerungsentwicklung in diesen Ländern uneingeschränkt positiv auf das Wachstum auswirkt. Aber zumindest was das Pro-Kopf-Wachstum betrifft, ist das nicht der Fall.“ Für Jäger sind Brasilien und Indien demografisch betrachtet in einer deutlich günstigeren Position als China und Russland.
Der entscheidende Faktor ist für ihn die Entwicklung der Erwerbsbevölkerung. Nach UN-Prognosen wird diese in China bereits 2015 ihren Höchststand erreichen und dann allmählich schrumpfen. Auch in Russland wird der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter zurückgehen – um 20 Millionen in den kommenden beiden Jahrzehnten. In Brasilien dagegen nimmt die Erwerbsbevölkerung um diese Zahl zu. Und in Indien soll sie um 240 Millionen Menschen wachsen. Das entspricht rund dem Dreifachen der derzeitigen Gesamtbevölkerung Deutschlands. Um 2030, so die Prognose, soll Indien China als bevölkerungsreichstes Land der Erde ablösen. Wird es dann das Reich der Mitte auch wirtschaftlich überholen? Schließlich ist „hohes Bevölkerungswachstum generell ein Wachstumstreiber“, wie Jörg Zeuner, Chefvolkswirt der VP Bank, betont. Doch der demografische Vorteil muss nicht zwangsläufig in eine noch bessere wirtschaftliche Entwicklung münden.
Das zeigen Ergebnisse des Demografieforschers Wolfgang Lutz vom Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse. Er hat untersucht, wie sich das Wirtschaftswachstum eines Landes durch Bildungsinvestitionen ändern kann. Ergebnis: Vor allem Investitionen in flächendeckende Grundschul- und Sekundarausbildung (Schulbesuch bis 15 Jahre) bringen Entwicklungsländer wirtschaftlich voran, ein hoher Akademikeranteil zahlt sich erst in einer späteren Entwicklungsphase aus.
Bildungsniveau sehr unterschiedlich
Der elitäre Bildungsweg, den Indien eingeschlagen hat, ist nach diesen Erkenntnissen nicht der wirksamste. Das Land investiert zwar viel in Hochschulabschlüsse, aber noch immer ist jeder zweite Inder Analphabet. „Das Land hat die Eliten, aber nicht die breiten Bevölkerungsschichten ausgebildet“, sagt Lutz. Dagegen habe in China fast jeder der unter 30-Jährigen die Volksschule besucht und mehr als die Hälfte die Sekundarstufe. „Gleichzeitig hat die Ein-Kind-Politik den Druck aus dem Schulsystem genommen.“ Für Lutz einer der Gründe, warum in China das Wirtschaftswachstum deutlich über jenem von Indien liegt.
Auch die Entwicklung in Brasilien beurteilt der Demograf positiv. Das Land habe das Bevölkerungswachstum in den Griff bekommen und durch die Expansion des Schulsystems das Bildungsniveau breiter Bevölkerungsschichten erhöht. „Eine Erfolgsstory“, resümiert Lutz. Ganz anders Russland: Zwar habe das Land schon seit Jahrzehnten ein eigentlich gut funktionierendes Bildungssystem. „Aber seit Anfang der 90er-Jahre gibt es einen Brain-Drain – die wissenschaftliche Elite hat das Land verlassen“, so Lutz. Auf die negativen Folgen der Abwanderung weist auch VP-Bank-Ökonom Zeuner hin. Zwar gehören für ihn die BRIC-Länder in eine langfristig ausgerichtete Anlagestrategie, allerdings „mit Fragezeichen hinter Russland“. Über die kommenden fünf bis zehn Jahre dürfe das ehemalige Ostblockland in einem diversifizierten Investment durchaus seinen Platz beanspruchen. Aber genauso wie bei China empfiehlt er Anlegern, wachsam zu sein. Im Reich der Mitte sieht Zeuner Risiken aufgrund der fälligen Liberalisierung von Wirtschaft und Finanzmärkten sowie durch gesellschaftliche Umbrüche. Die Länder, denen der Volkswirt langfristig die beste Entwicklung zutraut, sind Indien und Brasilien.
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Vincent Strauss setzt auf Konstanz. Für seinen globalen Schwellenländerfonds Comgest Magellan sucht der Manager hochwertige Unternehmen, die schon lange in ihrem Geschäft tätig sind und deren Lenker langfristig orientiert handeln. Banken meidet er: Ihre Geschäfte sind dem Manager, der den Fonds seit 1994 führt, zu undurchsichtig. Seine Schwerpunkte
sind Konsumgüter und Telekommunikationsanbieter.
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Brasilien gilt als eines der aussichtsreichsten Schwellenländer. Gründe dafür sind seine günstige demografische Entwicklung und die wachsende Mittelschicht. Auf die Konsumfreudigkeit der jungen Bevölkerung setzt José Cuervo mit seinem Aktienfonds HSBC GIF Brazil Equity. Der Manager hat die Branchen Finanzwerte, Konsumgüter und Telekommunikation im Vergleich zum Leitindex der Börse in São Paulo übergewichtet.
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