Brasilien: Die Macht der Mitte
Die neue Mittelschicht des Landes kämpft für eine bessere Zukunft. In der Tat braucht Brasilien dringend wirtschaftliche Reformen.
von Andreas Hohenadl, Euro am Sonntag
Nicht weniger als einen „großen Pakt“ mit ihrem Volk kündigte Brasiliens Regierungschefin Dilma Rousseff Mitte der Woche an. Die Präsidentin will die Bürger über die Einberufung einer Verfassungsversammlung abstimmen lassen. Die soll über eine umfassende Politikreform beraten. Einen Tag später beschlossen die Abgeordneten des Landes, die Strafen für Korruption massiv zu verschärfen. Doch die Brasilianer blieben auf den Straßen.
Seit mehr als zwei Wochen fegt ein Proteststurm über das Land. Begonnen hatte alles mit Demonstrationen gegen eine Fahrpreiserhöhung von 20 Centavos (weniger als zehn Cent) im Busverkehr von Rio und São Paulo. Doch längst ist daraus eine Massenbewegung geworden, die in den Großstädten Hunderttausende auf die Straßen treibt. Und längst geht es um mehr als um Bustickets.
Die Wut der Bürger richtet sich gegen mafiöse Strukturen in den Parlamenten, Parteien und Behörden. Zugleich geht es um Themen wie Umweltschutz, bessere Bildung, die Rechte von Ureinwohnern sowie um umstrittene Bauvorhaben und Milliardeninvestitionen in neue Fußballstadien.
Dass sich die Proteste im Umfeld des Fußball-Großereignisses Confed-Cup abspielen, ist für die Regierung besonders bitter. Denn damit wird klar: Fußball, Karneval und Samba allein reichen nicht mehr, um die Bevölkerung über die vielen Missstände hinwegzutrösten.
Brasiliens Bevölkerung — sie hat sich in den vergangenen Jahren radikal verändert. Vielen Menschen hat der Wirtschaftsaufschwung zu einem ökonomischen und sozialen Aufstieg verholfen. So ist in der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas eine neue Mittelschicht entstanden. Ihr gehören mittlerweile bei einer Einwohnerzahl von 200 Millionen mehr als die Hälfte der Brasilianer an. Eine große Gruppe, die sich ihrer Macht bewusst wird und nun gegen verkrustete Strukturen aufbegehrt. Die aber auch wütend ist angesichts steigender Lebenshaltungskosten und fehlender Investitionen.
Abhängigkeit von Rohstoffen
„Brasilien muss zurück ans Reißbrett und seine Wirtschaft teilweise neu ausrichten“, sagt selbst Paulo Vieira da Cunha, der ehemalige stellvertretende Notenbankchef des Landes. Das Problem: Die Nation ist zu abhängig von Rohstoffexporten. Sie machen rund 60 Prozent der Ausfuhren aus. Doch die Preise für Grundgüter sind stark zurückgegangen, vor allem wegen der schwächeren Nachfrage aus China.
Brasilien könnte wesentlich besser von seinem Rohstoffreichtum profitieren, wenn es die Weiterverarbeitung der Bodenschätze im eigenen Land ausbauen würde. Doch dazu müsste die Regierung den privatwirtschaftlichen Kräften mehr Raum zugestehen. Und sie vor allem von bürokratischem Ballast und einer hohen Steuerlast befreien.
So verwundert es nicht, dass die Firmen des Landes kaum investieren. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug die Investitionsquote 2012 gerade einmal 18 Prozent. Zum Vergleich: In Indien lag sie bei 35 Prozent, in China bei 47 Prozent. Die schleppenden Investitionen bremsen die Wachstumsdynamik. Während das BIP von 2006 bis 2008 im Schnitt um fünf Prozent zulegte und 2010 sogar einen Wert von 7,6 Prozent erreichte, waren es vergangenes Jahr magere 0,9 Prozent.
In dieser Zahl spiegelt sich wider, dass Brasiliens Wirtschaft stark an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt hat. Dafür sorgte nicht nur die lange Zeit aufwertende Landeswährung Real. Auch die Löhne sind stark gestiegen. In US-Dollar gerechnet haben sich die Nominallöhne in den zurückliegenden zehn Jahren verdreifacht. Zum Vergleich: In den USA stiegen die Durchschnittslöhne im selben Zeitraum nur um 30 Prozent.
All das hat auch Anleger zurückhaltend werden lassen. Der brasilianische Leitindex Bovespa bot in den vergangenen zwei Jahren kaum Grund zur Freude. Im Zuge der Proteste ging es nun abwärts bis auf ein Vierjahrestief.
Auf Präsidentin Rousseff wartet viel Arbeit. Sie muss Privatisierungen anschieben, die Unternehmensteuer reformieren, Märkte liberalisieren. All das braucht Zeit. „Weder die strukturelle Investitionsschwäche noch der in den zurückliegenden Jahren aufgelaufene Verlust an preislicher Wettbewerbsfähigkeit wird so schnell überwunden werden können“, meint Andreas Busch, Analyst beim Vermögensverwalter Bantleon. Bei Brasilien-Anlegern ist nun Geduld gefragt.
Investor-Info
BSF Latin American Opp.
Fokus auf kleine Werte
Die Fünf-Jahres-Bilanz mit plus 40 Prozent für Anleger aus dem Euroraum kann sich immer noch sehen lassen. Die meisten Fonds der Lateinamerika-Kategorie haben über diesen Zeitraum schon ins Minus gedreht. Und das, obwohl sich Fondsmanager Will Landers auf die riskanteren kleineren und mittleren Werte der Region konzentriert. Brasilianische Firmen nehmen in seinem Portfolio den größten Anteil ein. Entsprechend ging es für den Fonds die vergangenen Wochen nach unten. Derzeit kein Kauf.
First State Latin America
Nicht ganz so viel Brasilien
Als einer der wenigen Lateinamerika-Fonds hat der First State Latin America kein Übergewicht an brasilianischen Aktien. Werte aus Chile spielen hier mit über 40 Prozent Gewichtung momentan die größte Rolle, gefolgt von brasilianischen Aktien mit knapp 33 Prozent. Aus unserer Sicht ist dieses Produkt der beste Lateinamerika-Fonds. Wer langfristig auf ein Comeback Brasiliens setzen will, sollte den jüngsten Kursrückschlag nutzen. Einziger Haken: Ein Kauf des Note-1-Fonds mit reduziertem Ausgabeaufschlag ist nicht mehr möglich.