Lateinamerika braucht den Wandel
Trotz der großen Abhängigkeit von Rohstoffexporten - die Probleme in den lateinamerikanischen Ländern sind vor allem hausgemacht. Anleger sollten die Region nicht außer Acht lassen.
Werte in diesem Artikel
von Kim Catechis, Gastautor von Euro am Sonntag
Was uns den Abschwung in Brasilien am deutlichsten hat spüren lassen, war der Verkehr - oder vielmehr seine Abwesenheit. Während es früher dank regelmäßiger Verkehrsinfarkte mindestens eine Stunde dauerte, bis es alle Beteiligten zum Meeting geschafft hatten, sucht man Staus in Brasilien heute vergeblich. Einerseits angenehm, andererseits ein deutliches Zeichen des Rezessionsstrudels im Land.
Dabei wurden die aktuellen wirtschaftlichen Probleme vom politischen Verfall im Land in den vergangenen zwölf Monaten noch verschlimmert. Eine strukturelle Wirtschaftsreform, wie sie dringend nötig ist, scheint in weite Ferne gerückt. Damit steht Brasilien keinesfalls alleine da. Die Regierungen in Lateinamerika - egal welcher politischen Richtung - haben ihren Wählern keinen Dienst erwiesen. Reiche wurden weiter privilegiert, Investments in Bildung, Gesundheit und Sicherheit blieben aus. Das rächt sich jetzt. Der Subkontinent scheint an einem Scheideweg zu stehen.
Korruptionsskandale und Blockade
wichtiger Reformen
Wir glauben, Lateinamerika taucht gerade ein in eine historische und fundamentale Neuverteilung der politischen Kräfte. Denn nach Aufschwung und unsteter Politik ist der Großteil der Region heute am Scheitelpunkt des Wandels angelangt. Einerseits wurde der Rohstoffboom dazu genutzt, die Bürokratie und den Wohlfahrtsstaat weiter auszubauen. Gleichzeitig haben viele Regierungen nationale Programme aufgelegt oder weite Teile der Wirtschaft dermaßen subventioniert, dass es für den privaten Sektor unwirtschaftlich wurde zu investieren.
Strom kostet in Buenos Aires beispielsweise weniger als einen US-Dollar pro Monat und damit nicht einmal so viel wie eine Tasse Espresso. Allerdings haben auch etwa 30 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung mittlerweile die Armutsgrenze hinter sich lassen können. Laut Weltbank haben mittlere Einkommen einen Anteil von 30 Prozent, mit 50 Millionen Neuzugängen seit 2003.
Das ist deshalb eine richtungsweisende Entwicklung, weil mit diesem Zuwachs auch eine neue Generation entsteht, deren Einstellung zur Politik sich vollkommen verändert hat: Eine junge, besser ausgebildete, besser informierte Generation als die ihrer Eltern. Sie sind ergebnisorientiert und warten ungeduldig darauf, dass sich ihre Lebensbedingungen verbessern. Loyalitätsstimmen suchen Parteien hier vergebens. Und als Steuerzahler sind sie außerdem schnell darin, ihrem Unmut über schlechten Service, öffentliche Fehlinvestitionen oder Korruption Luft zu machen.
In den meisten Ländern Lateinamerikas hat dies zu politischer Schwäche und Reformblockaden geführt. Gleichzeitig werden die alten hierarchisch geprägten Parteien gezwungen, ihre Komfortzonen zu verlassen. Längst haben sie nicht mehr die uneingeschränkte Manöverfreiheit, die sie lange Zeit genossen. Bestes Beispiel hierfür ist wieder Brasilien, wo die Ermittlungen im Fall des Lava Jato/Car Wash-Korruptionsskandals bereits zwei Jahre dauern und sich immer neue Abgründe auftun. Mittlerweile sind schon über 100 hochkarätige Geschäftsleute, Banker und Politiker verhaftet worden - unter ihnen auch der Chef des Oberhauses Delcidio do Amaral und damit der erste amtierende Senator in der brasilianischen Geschichte.
Auch für die Arbeiterpartei PT scheint die Party vorüber. Sowohl gegen Präsidentin Dilma Rousseff als auch gegen Ex-Präsident Lula laufen Verfahren wegen Amtsmissbrauchs. Ihr wird vorgeworfen, die Haushaltskontrollgrenzen zugunsten ihrer Wiederwahl 2014 manipuliert zu haben, er ist in einen Korruptionsskandal verwickelt. So ist der Handlungsspielraum der Regierung weiter eingeschränkt, der durch die Koalitionsstruktur ohnehin klein war. Eine orthodoxere Fiskalpolitik wird schwer umzusetzen sein, die wäre in der Rezession, in der sich das Land befindet, aber extrem wichtig.
Ebenfalls spannend: die politische Situation in Venezuela. Bei den letzten Wahlen konnte die Opposition 112 der insgesamt 167 Sitze für sich beanspruchen, was ihr die nötige Zweidrittelmehrheit verschafft, um sich gegen Präsident Nicolas Maduro durchzusetzen. Bereits verabschiedete Gesetze widerrufen, die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts ändern, die Abwahl von prominenten Chavistas einleiten - alles ist denkbar. Für eine Abwahl Maduros würde die Opposition Unterschriften von 20 Prozent der Wähler plus die Genehmigung der Wahlkommission benötigen. Sie könnte aber auch mit einem Referendum drohen, das Maduro zum jetzigen Zeitpunkt verlieren würde. Damit stehen die Zeichen für Venezuela grundsätzlich auf Fortschritt.
Kurzfristig schwierige Situation,
langfristig gute Chancen
Dennoch werden die kommenden Jahre von politischen Reformen geprägt sein, die die Gräben wohl vertiefen und für einen wirtschaftlichen Abschwung sorgen werden. Schlimmer noch: Für 2016 muss wohl mit einer akuten sozialen und wirtschaftlichen Krise gerechnet werden. Das sind nur zwei Beispiele für die gravierenden Umwälzungen in Lateinamerika. Doch auch in Ländern wie Argentinien, Chile oder Kolumbien stehen politische Richtungsänderungen noch auf sehr dünnem Eis.
Was bedeutet das für Investments in der Region? Aus unserer Sicht sind die Herausforderungen aktuell zwar groß, die langfristigen Chancen überwiegen jedoch. Denn so schwierig sie auch sein mag, aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Kulisse bieten sich viele Chancen für lokale und internationale Unternehmen, Assets günstig zu erwerben.
Manche Direktinvestments in der Region könnten sich sogar schon mittelfristig auszahlen. Auch Währungsabwertungen und andere wirtschaftliche Stellschrauben vereinfachen die kurzfristige Situation nicht, können aber dafür mehr Wettbewerbsfähigkeit bei Exporten und Stabilität in der Region schaffen. Und dann sind da immer noch die qualitativ hochwertigen Unternehmen mit exzellentem Management, die sich trotz schlechter makroökonomischer Vorzeichen wacker schlagen. Vor allem in den größeren Ländern halten wir sie nach wie vor für attraktiv. Hinzu kommen langfristig positive Treiber wie die günstige Demografie, wachsende soziale Mobilität und die aufstrebende Mittelschicht. Geduldige, langfristig orientierte Anleger dürfen sich also nach wie vor mit Lateinamerika beschäftigen.
Kurzvita
Kim Catechis, Head of Global Emerging Markets
bei der Legg-Mason-Tochter Martin Currie
In Zimbabwe geboren, studierte Catechis Französisch und Deutsch an der Universität Sterling. Seit 1987 arbeitet er als Fondsmanager, seit 2010 bei Martin Currie. Legg Mason ist einer der größten Vermögensverwalter weltweit mit Niederlassungen in 22 Ländern. Die Investmentlösungen der Firma umfassen Aktien-, Renten- und Alternativanlagestrategien für sämtliche globalen Märkte.
Weitere News
Bildquellen: Filipe Frazao / Shutterstock.com, Graham Clark/Martin Currie Ltd.