Draghi: Leitzinsen bleiben für einen längeren Zeitraum auf Rekordtief
Die Europäische Zentralbank (EZB) wird ihre Geldpolitik vorerst nicht mehr weiter lockern, könnte das aber gegen Jahresende erneut tun.
EZB-Präsident Mario Draghi sagte in seiner Pressekonferenz nach dem jüngsten Zinsbeschluss, die EZB werde die im März beschlossenen Maßnahmen umsetzen und deren Auswirkungen beobachten. Eine ungewollte Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen oder Zweitrundeneffekte der sehr niedrigen Inflation würden die EZB aber zum Handeln zwingen.
EZB-Zinsentscheidung und Draghi-PK ohne nennenswerte Finanzmarktreaktionen
An den Finanzmärkten, wo eine derartige Rhetorik erwartet worden war, blieben Draghis Äußerungen ohne nennenswerte Auswirkungen. Der Euro wertete ein wenig ab, die Anleiherenditen sanken leicht, und der Dax reagierte gar nicht.
Die deutlichste Reaktion lösten noch die niedrigeren Kerninflationsprognosen aus, die erst um 15.30 Uhr veröffentlicht wurden. Sie zeigen, dass die EZB mit einem noch schwächeren unterliegenden Inflationsdruck als zuletzt rechnet.
Volkswirte sahen sich überwiegend in ihrer Einschätzung bestätigt, dass die EZB eine weitere geldpolitische Lockerung für das Jahresende ins Auge fasst.
"Wir müssen uns auf die Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen und auf deren Auswirkungen konzentrieren", sagte Draghi in seiner Pressekonferenz in Wien. Handeln würde die EZB allerdings, wenn es zu einer ungewollten Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen käme oder wenn sich Zweitrundeneffekte der niedrigen Inflationsraten zeigen würden. Bisher seien jedoch keine Zweitrundeneffekte zu beobachten. Draghi wies aber darauf hin, dass sich die Kerninflation seit März schwächer als erwartet entwickelt habe.
Tatsächlich senkte der volkswirtschaftliche Stab der EZB seine Prognosen für die Entwicklung der Kerninflation. Für 2018 kann die EZB nun nur noch mit einer Kerninflation von 1,5 (bisher: 1,6) Prozent rechnen. Die Prognosen für 2017 und 2016 wurden auf 1,2 (1,3) und 1,5 (1,6) Prozent zurückgenommen. Das heißt, dass die EZB trotz eines deutlich gestiegenen Ölpreises mit einem niedrigeren unterliegenden Inflationsdruck als bisher rechnen muss.
Prognosen für Gesamtinflation trotz höheren Ölpreises nahezu unverändert
Dagegen blieben die Prognosen für die Gesamtinflation weitgehend unverändert. Für 2017 und 2018 erwartet der EZB-Stab weiterhin 1,3 und 1,6 Prozent Inflation. Lediglich die Prognose für 2016 wurde auf 0,2 (0,1) Prozent angehoben. Diese Prognosen basieren auf der Annahme eines Brent-Preises von 42,40 (zuvor: 34,90) US-Dollar im laufenden Jahr, gefolgt von 49,10 (41,20) und 51,30 (44,90) Dollar in den beiden kommenden Jahren. Derzeit notiert der führende Brent-Kontrakt knapp unter 50 Dollar. Für den Euro werden Wechselkurse von 1,13 (1,11), 1,14 (1,12) und 1,14 (1,12) US-Dollar unterstellt.
"Wir waren überrascht, dass sich die Inflationsprognosen der EZB kaum geändert haben, obwohl der Ölpreis seit März beträchtlich gestiegen ist", heißt es in einem Kommentar von Nordea.
Zugleich hoben die Zentralbankökonomen ihre Wachstumsprognose für 2016 an. Sie erwarten nun einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in der Eurozone um 1,6 (1,4) Prozent. Die Prognosen für 2017 und 2018 lauten weiterhin auf 1,7 und 1,8 Prozent. Die Risiken für diese Prognosen sind laut EZB weiterhin abwärts gerichtet.
"Das einzig Bemerkenswerte ist für mich die deutliche Anhebung der Wachstumsprognose für dieses Jahr", sagte Alexander Krüger, der Chefvolkswirt des Bankhauses Lampe. Die dahinter steckende Annahme, dass die Euroraum-Wirtschaft in jedem der kommenden Quartale um 0,4 Prozent wachsen wird, findet er durchaus ambitioniert.
Ansonsten erwartet Krüger, dass die EZB bei der Prüfung des Inflationsausblicks und der Auswirkungen des März-Programms gegen Jahresende zu dem Schluss kommen wird, dass das nicht ausreicht, um das Inflationsziel von knapp 2 Prozent zu erreichen.
Draghi bekräftigt geldpolitische Schlüsselaussagen
In seinem vorbereiteten Statement bekräftigte der EZB-Präsident die zuletzt gemachten geldpolitischen Schlüsselaussagen. Demnach wird die EZB ihre Zinsen für längere Zeit auf dem gegenwärtigen oder einem noch niedrigen Niveau halten. Dieses niedrige Zinsniveau soll länger anhalten als die Wertpapierankäufe der EZB.
Das Wertpapierkaufprogramm wiederum soll nach jetzigem Stand bis Ende März 2017 laufen - mindestens aber so lange, bis die Inflation nach Einschätzung des EZB-Rats eine überzeugende Wende in Richtung des Zielbereichs vollzogen hat.
Ab 8. Juni wird die EZB neben Staatsanleihen, Covered Bonds und Kreditverbriefungen auch Unternehmensanleihen kaufen. Zudem startet im Juni eine zweite Serie langfristiger, gezielter Refinanzierungsgeschäfte für Banken mit vierjähriger Laufzeit, deren Zins höchstens bei null Prozent liegen wird.
Ökonomen rechnen für Jahresende mit weiterer EZB-Lockerung
Howard Archer von IHS Global Insight findet, dass sich Draghi mit seinem Auftreten eine Tür für weitere Lockerungsmaßnahmen offen gehalten hat. Nicht nur habe Draghi in seinem Statement betont, dass die Leitzinsen für längere Zeit auf dem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau blieben würden, er habe auch gesagt, dass der EZB-Rat notfalls "ohne unnötige Verzögerung" handeln werde.Und Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer prognostizierte: "Wir erwarten nach wie vor, dass die EZB ihre Geldpolitik gegen Jahresende erneut lockert. So dürfte sie Anleihen über den angedachten Endzeitpunkt März 2017 hinaus kaufen. Außerdem könnte sie ihren Einlagenzins erneut senken."
FRANKFURT/WIEN (Dow Jones)
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